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Das ist alles, was ich über die ersten zweieinhalb Jahre meines Lebens erzählen kann. Aus den danach folgenden Jahren in Buenos Aires, und später in Brasilien, bleiben mir freilich viel mehr Episoden im Gedächtnis. Die Sperbers (so wurden wir von der gesamten Familie Frankl genannt) wurden zuerst in zwei Zimmern untergebracht, im Gebäude des vorher erwähnten Modesalons Yerlaine. Der Laden befand sich im Erdgeschoss, aber der gesamte erste Stock des damals vielleicht schon zwanzig Jahre alten Gebäudes war an meinen Onkel Leo und seine Frau Ella (vermutlich) vermietet. Der straßenseitige Teil dieses Geschosses, wo sich früher vermutlich der Salon und das Speisezimmer der hier wohnhaft gewesenen wohlhabenden Familie befanden, diente als Empfangs- und Proberaum für die beste Kundschaft Yerlaines. Dort war auch die Manipulation, die Verwaltung der Firma, bei der mein Vater für eine gewisse Zeit als Buchhalter arbeitete. Dann kam ein erster Patio, mit mehreren Räumen um ihn. Einige dieser Räume wurden als Arbeitszimmer für die Näherinnen der Firma gebraucht; in zweien dieser Räume wohnte das alte Ehepaar Salomon und Rosalie Frankl. Die Sperbers wohnten in zwei Zimmern am Rande des zweiten Patios, wo früher die Küche und die Unterkunft des Hauspersonals untergebracht waren. Bei unserer Ankunft in Buenos Aires hatten wir so gut wie nichts in der Tasche. Das heißt, dass wir jahrelang von der Großzügigkeit von Onkel Leo und Tante Elsa abhängig waren. Meine Eltern hatten versucht, Spanisch zu lernen, mithilfe eines Buches mit dem Titel „Tausend Wörter Spanisch“. Sie haben es bis zu ihrem Tode nie richtig gelernt. Mein Vater war inzwischen schon Ende fünfzig, meine Mutter Mitte vierzig. Trotz aller Schwierigkeiten haben sie uns beide prima erzogen. Mein Vater arbeitete eine Zeit lang als Buchhalter des Modeladens. Dann dürfte es zu Schwierigkeiten zwischen ihnen gekommen sein, denn er übernahm einen anderen Job. Und half uns über die Runden zu kommen, indem er anfıng, als Fußpfleger zu arbeiten, das heißt, er übernahm den Wiener Beruf unseres Onkels Siggi... Ich denke, dass meine Mutter in Wien niemals die volle Rolle einer Hausfrau ausgeübt hat, denn wir hatten ja die Poldi... Aber in der „Emigration“ musste sie das tun. Als ich sieben Jahre alt war, zogen wir in eine andere Wohnung um, in der Straße Maipü, Ecke Paraguay, hundert Meter entfernt von der damaligen Botschaft des Deutschen Reiches, an der bis Anfang 1945 die Banner mit dem Hakenkreuz hingen, denn Argentinien blieb bis knapp vor Kriegsende neutral. Keine schöne Ansicht für jüdische Emigranten ... Im gleichen Jahr ging ich zum ersten Mal in die Schule. Die argentinische Grundschule dauerte sieben Jahre, und ich besuchte eine der besten öffentlichen Grundschulen der Stadt. In der Zwischenzeit hatte ich die spanische Sprache schon so gut gelernt, dass ich bald zum Primus meiner Klasse wurde. Obwohl ich ein Ausländer war, wurde ich, als Primus, bei vielen der zahlreichen Feierlichkeiten unserer Schule zum Fahnenträger ernannt. Ein Zeichen davon, wie offen und liberal, wie demokratisch die argentinischen öffentlichen Schulen damals sein konnten. Keine Spur von Fremdenhass, von Antisemitismus. Das war nicht überall so, denn mindestens einmal wurden gegen den großen jüdischen Tempel auf der Straße Libertad Bomben geworfen. Allerdings waren es damals nur Teerbomben. Am Ende meiner Grundschule meinten meine Eltern, wie schon vier Jahre zuvor im Falle meines Bruders, dass ich eine Mittelschule besuchen solle, die einen berufsfähigen Abschluss anbot, und zwar eine sogenannte Handelsschule, an der man ein Diplom als Buchhalter erlangen konnte. An dieser Schule lernte ich Englisch und Französisch, sodass ich als Siebzehnjähriger schon vier Sprachen beherrschte. Hinzu kam das Italienische, das ich, ohne es zu merken, als Filmfan in den Kinos lernte, denn in Argentinien wurden damals fremdsprachige Filme immer nur untertitelt vorgeführt. Nun, wie kam es dazu, dass heutzutage das Portugiesische die Sprache ist, die ich am meisten spreche und lese? Das hängt mit der „anderen Geschichte“ zusammen, die ich erwähnte, als ich oben von Josef Frankl sprach, dem Busenfreund meines Onkels Leo (der übrigens 1948 bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist). Josef Frankl lebte schon seit langen Jahren in Brasilien und hatte dort eine Nichtjüdin aus Wien geheiratet, Anna Misek. Sie hatten drei Kinder: Paulo, Suzi und Eduardo. Mitte der fünfziger Jahre starb Annas Mutter, und man riet ihr, dass sie, um sich vom Schmerz dieses Todes ein wenig abzulenken, zusammen mit ihrer Tochter die argentinischen Verwandten besuchen solle. So kamen Anna und Suzi Frankl 1957 nach Buenos Aires. Als ich Suzi kennenlernte, war es— der Ausdruck klingt stark abgegriffen, aber so war es nun einmal — Liebe auf den ersten Blick. Es dauerte vier Jahre, mit intensivem Briefaustausch und wenigen Treffen während der Ferien, bis ich schließlich und endlich Ende August 1961 nach Brasilien zog. Wir heirateten im Jänner 1962. Unsere Kinder wurden 1963 (Carlos) und 1965 (Lücia) geboren. Lücia ist dann früh, kurz vor Ende 2005, gestorben. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass ich bei meiner Ankunft in Brasilien, also Ende August 1961, kein einziges Wort Portugiesisch sprach. Dass dann Portugiesisch zu meiner sechsten Sprache wurde — und heute meine wichtigste Sprache ist, die Sprache in der ich am meisten träume — habe ich meiner Frau zu verdanken. Auch sie überzeugte mich, in Brasilien ein Studium von Anfang bis zum Ende zu absolvieren, denn ich hatte bei meiner Ausreise aus Argentinien ein Architekturstudium abgebrochen, das ich in Brasilien nicht wieder aufnehmen konnte, da es in diesem Fach in Brasilien keine Abendkurse gab. Tagsüber musste ich arbeiten, denn ich hatte ja „eine Familie zu ernähren“. Also fing ich 1967 ein Studium von Anglistik und Germanistik an der Universität Säo Paulo (USP) an, welches ich mit einer Promotion an der LMU in München abschloss. Später, von 1984 bis 2008, wurde ich Dozent für deutschsprachige Literatur und Übersetzung an der USP. Vor dem Anfang meines Studiums hatte ich schon meinen ersten Einsatz als Dolmetscher, ohne mir dessen bewusst zu sein. Denn Mitte der sechziger Jahre bekam ich einen Job bei einer Firma, welche einen italienischen Konzern in Brasilien vertrat, der in der Stadt Cubatäo eine Chlor- und Sodafabrik aufbaute. Bei dieser Firma sprachen die Mitarbeiter entweder Italienisch, Portugiesisch oder Spanisch, aber keiner von ihnen sprach Englisch. Nun war dieses Werk ein Joint Venture, an der auch eine Firma aus den USA beteiligt war. Und diese Firma schickte einen Ingenieur nach Brasilien, um den Aufbau zu betreuen, einen typischen, netten Amerikaner, der, wie zu vermuten war, nur Englisch sprach. Meine Aufgabe lag nun darin, die Verständigung zwischen all diesen Leuten zu ermöglichen. Das tat ich auch. Ohne, wie gesagt, mir dessen bewusst zu sein, dass ich zu einem „Dolmetscher“ geworden war. Meinen ersten wichtigen Auftrag als Übersetzer aus dem Deutschen bekam ich noch als Student, als mir einer meiner damaligen Lehrer an der Universität Säo Paulo die Aufgabe übertrug, Erich Auerbachs „Mimesis“ ins Portugiesische zu übersetzen. Also zeigte Dezember 2013 63