Lebensweg sowie die Geschichte seiner Familie
in Zeiten des Bolschewismus und der Judenver¬
folgung — bis auf einen Cousin Hanna Papaneks,
der sich retten konnte, wurde die ganze in Riga
verbliebene Familie Ende November/Anfang
Dezember 1941 von Deutschen und Letten er¬
mordet — wurde u.a. mit Hilfe der heute in Riga
und Paris lebenden Verwandten rekonstruiert
(siehe 11. Kapitel).
Typisch für die Darstellungsweise Hanna
Papancks ist die Einbeziehung persönlichen
Erlebens, z.B. hier:
Wie bei allen vorherigen Besuchen bei meiner
Rigaer Familie, fiel ich auch bei diesem von einem
Augenblick zum nächsten von plötzlicher Freude
in unsagbare Trauer — auch das gehört zu den
Gefahren teilnehmender Geschichtsschreibung. Die
Geschichte, betrachtet wie im Schnitt durch die
Ablagerungsschichten bei einer archäologischen
Grabung, liegt wirr und widersprüchlich vor mir
und bestätigt mir so, was ich längst wusste: Alles
Leben ist Durcheinander und Widerspruch, und es
zu erforschen bedeutet, ihm die Ordnung und den
Sinn überzustülpen, der der Seele der Ausgräberin
frommt. (S. 335)
Im Mittelpunkt des Buches stehen die erst im
Kontext des Schreibens geführten Auseinander¬
setzungen mit den Eltern, die lebensgeschichtlich
prägende und identitätsbildende Exilerfahrung
und die Aufarbeitung der Rettungsaktionen, der
gelungenen und der gescheiterten (3.-9. Kapi¬
tel). Bereits durch das politische Engagement der
Eltern geprägt, schloss sich die damals Zwölf¬
jährige in Paris der „Gruppe Freundschaft“ an,
eine von österreichischen Exilanten gegründete
Jugendgruppe der „Roten Falken“. Der Sommer
1939 in einer Jugendherberge in Plessis Robin¬
son schweißte die Gruppe, die danach in die
OSE-Kinderheime ging', emotional zusammen.
In diesen Kinderheimen, die von dem in die
Wiener Schulreform involvierten Pädagogen
Ernst Papanek geleitet wurden, fanden über
tausend exilierte Kinder und Jugendliche Zu¬
flucht und wurden nach reformpädagogischen
Prinzipien erzogen, was für Hanna Papaneks
politische Sozialisation lebenslang bestimmend
geworden ist:
Gruppenmitgliedschaft, Gruppensolidarität,
Freundschaft innerhalb von Gruppen und schlie߬
lich der Verlust von Freundinnen und Freunden
stehen aus gutem Grund im Mittelpunkt meiner
Erinnerungen. (S. 291)
Mit dem Fall von Paris wurden die Kinder
und Jugendlichen in den Süden Frankreichs, in
die unbesetzte Zone, gebracht, jedoch die Kol¬
laboration der Vichy-Regierung, insbesondere
der Art. 19 des Waffenstillstandsabkommens,
der die ,,Auslieferung auf Verlangen“ vorsah,
ließ Frankreich für deutsche und österreichi¬
sche Flüchtlinge zur Falle werden. Wer auf den
deutschen Fahndungslisten stand, im Kampf
um die Listenplatze fiir die Erteilung von Visen
unterlag und keine ausländische Hilfe erhielt
(siehe 6. und 7. Kapitel), nicht illegal die Grenze
nach Spanien oder in die Schweiz überqueren
konnte oder in einem Versteck geschützt wurde,
war in größter Gefahr, interniert und deportiert
zu werden. Hanna Papanek trauert um „Die
Kinder, die wir zurückließen“ (S. 223 ff.) und
setzt ihren beiden Freundinnen Dorli Loebl
und Adele Kurzweil ein Denkmal (8. und 9.
Kapitel). Dabei untersucht sie sehr genau die
Bedingungen und Voraussetzungen, auch die
Zufälle und getroffenen Entscheidungen, die
zur Rettung bzw. zum Untergang führten, und
plädiert dafür, die Möglichkeiten des einzelnen
Menschen zu sehen und ihn nicht von vornher¬
ein als Opfer zu stigmatisieren, wie es z.B. durch
die Inszenierung der Ausstellung im Holocaust
Memorial Museum in Washington vermittelt
wird (S. 19 ff., S. 181), denn:
Gerade die Achtung vor den Toten verlangt es,
darauf hinzuweisen, dass sie, innerhalb der von den
Verfolgern bestimmten und rasch veränderlichen
Grenzen, als Lebende gewisse Handlungsspielräume
hatten, zwischen Alternativen wählen konnten,
noch nicht so völlig hilflos waren, wie sie es in den
Viehwagen zur Gaskammer werden sollten; dass
sie agency üben konnten. (S. 254)?
Da der Vater anhand eines alten Dokumen¬
tes seine russische Staatsbürgerschaft geltend
machen konnte (S. 364 ff.), war ihm, nach¬
dem er auf der lebensrettenden Liste des Jewish
Labor Committees stand, eine legale Ausreise
möglich, die er mit seiner ersten Frau, von der
er nicht geschieden war, und ältesten Tochter
antrat, völlig im Unklaren darüber, ob auch Elly
und Hanna Kaiser die Flucht gelingen könnte.
Gerade dieses 5. Kapitel macht die Dramatik
eindringlich deutlich und auch den Mut der
damals Dreizehnjährigen, die anstelle der schwer
erkrankten Mutter in Marseille die notwendigen
Wege für die alles entscheidenden Papiere für die
Weiterreise nach der Überschreitung der grünen
Grenze im Gebirge erledigte. In Lissabon kam
es dann zu der erhofften Familienzusammen¬
führung und Verschiffung. Obwohl die Eltern
dann in New York heirateten, lastete auf der
Mutter die durch die Fälschung ihres Status
„erschwindelte“ Aufenthaltsberechtigung, die
Hanna Papanek mit Hilfe der erhalten geblie¬
benen Dokumente rekonstruiert:
Die persönlichen Papiere im Nachlass meiner
Mutter, säuberlich sortiert in ihrem Koffer, die jeder
Exilant stets bei sich trägt, um beweisen zu können,
dass er eine Vergangenheit hat und vielleicht sogar
eine Zukunft. (S. 23)
Diese Ängste führten zu rigiden Auflagen für
die Tochter, z.B. musste sie den Vater verleugnen
(S. 156, S. 349), und konnten erst nach vielen
Jahren durch die Beantragung eines regulären
Einreisevisums und der amerikanischen Staats¬
bürgerschaft abgeschüttelt werden.
Im 14. Kapitel und im Epilog beschreibt Han¬
na Papanek die „Traurigkeit des Exils“ für ihre
Mutter und den Vater, die gern nach Deutsch¬
land zurückgekehrt wären und sehnsüchtig auf
das Kriegsende warteten. Die Vereinsamung,
der fehlende politische Zusammenhalt und der
„Druck der Amerikanisierung“ lastete sehr auf
der Familie:
In keinem unserer früheren Exile war eine derart
tief greifende Angleichung von uns erwartet wor¬
den, und wir hatten uns auch nie freiwillig zu ihr
entschlossen. Im Ergebnis lebten wir in Amerika der
Jahrhundertmitte nicht als Einwanderer sondern
als Exilanten. (S. 431)
Der Vater, ohne Verdienstmöglichkeit und
enttäuscht, weil Hoffnungen auf eine For¬
schungsförderung nicht erfüllt wurden, lebte
krank, verbittert und depressiv nur bis zum
Herbst 1948, die Mutter verdiente den Lebens¬
unterhalt in freudloser Arbeit in Aushilfsjobs
und dann als Sekretärin; sie starb Dezember
1961.
Nach Beendigung der Schule und der Ehe¬
schließung mit Gustav Papanek, dem Jugend¬
freund aus der „Rote Falken“-Gruppe in Paris,
konnte ein Studium u.a. an der Harvard Univer¬
sity deshalb finanziert werden, weil der Einsatz
als Soldat in der US-Army — Gustav Papanek war
in Deutschland — mit einer staatlichen Unter¬
stützung für seine Ausbildung belohnt wurde,
und davon lebten sie beide. Die Mc-Carthy-Ära
veranlasste dann die Wahlexile in süd- und süd¬
ostasiatischen Ländern, u.a. Pakistan, Indonesi¬
en und Indien, und damit auch die Promotion
über eine islamische Sekte und anschließend
Forschungsprojekte und die Lehrtätigkeit an
amerikanischen und indonesischen Universitä¬
ten im Bereich der Entwicklungs- und Frauen¬
politik. Die Frage ihrer indischen Kolleginnen,
die über Frauenlebensgeschichten arbeiteten,
nach ihrer Geschichte war impulsgebend für das
vorliegende Buch ($. 308 f.), traf aber auch ge¬
nau auf ihr wissenschaftliches Selbstverständnis:
Ich suche und finde in jeder Theorie die Bio¬
graphie: die Spuren der persönlichen Erfahrung
dessen, der sie aufstellt oder vertritt; des nie aus¬
zuschaltenden Einflusses des Beobachters auf die
Beobachtung. Worum es mir geht ist, Sprach- und
Kulturschranken in der Wahrnehmung und im
Denken der Menschen zugunsten eines globaleren
Blickwinkels zu überwinden. (S. 291)
Zwei kleine Kritikpunkte sollen genannt wer¬
den, die allerdings nicht der Autorin, sondern
dem Verlag anzulasten sind: Erstens gehören
Quellen-, Literatur- und Abkürzungsverzeich¬
nisse, die Auflistung der benutzten Archive
und das Personen- und Sachregister nicht in
den Anhang, sondern sind essentiell für ein
wissenschaftliches Werk, und zweitens ist bei
der Endkorrektur wohl nur ein flüchtiger Blick
auf die Silbentrennung geworfen worden. Das
schmälert jedoch den sehr positiven Gesamtein¬
druck keinesfalls — das Buch ist mit den vielen
Fotografien und Dokumenten auch optisch
ansprechend gestaltet worden. Abschließend
ist zu sagen, dass die im Anhang befindlichen
Stammbäume und die Kurzbiographien hilfreich
für die Lektüre sind und dass die Danksagung
der Autorin sehr schön geworden ist, zeigt sie
doch auf, welche Menschen sie auf ihrer „Reise“
(S. 42) in die Vergangenheit begleitet haben.
Das Buch von Hanna Papanek setzt neue
Maßstäbe in der Biographie- und Exilforschung
und ist in der gelungenen Mischung von quel¬
lenorientierter Aufarbeitung und persönlichen