Gedichte Schreibende haben es verdammt
schwer in poesieferner Zeit, in der sich noch
dazu das Interesse des Feuilletons und der
Literaturkritik fast ausnahmslos auf Romane
konzentriert, mit ihrer nutzlosen Arbeit wahr¬
genommen zu werden. Noch viel schwerer hat¬
ten und haben es Dichter im Exil, so sie den
Literaturbetrieb nicht durch eine zusätzliche
publizistische Tätigkeit für diesen und in diesem
auf sich aufmerksam machen konnten.
Der 1952 in Bogotä, Kolumbien, geborene
Dichter Darley Rojas Castaneda wanderte ab
1977 durch verschiedene Länder Europas und
lebt seit 1987 in Wien. Er gestaltete für „Ra¬
dio Austria International“ Programme über
lateinamerikanische Autoren und organisierte
zweisprachige Lesungen (spanisch und deutsch)
mit ausgewählten Werken lateinamerikanischer
Autoren wie Jorge Luis Borges, Octavio Paz,
Julio Cortäzar und Juan Rulfo. Nun sind, nach
dem Abdruck einiger seiner Gedichte in der
von Helmuth Niederle herausgegebenen An¬
thologie Die Fremde in mir. Lyrik und Prosa der
österreichischen Volksgruppen und Zuwanderer,
erstmals von ihm Gedichte in einer repräsen¬
tativen zweisprachigen Buchausgabe unter dem
Titel Türkisfarbenes Tor erschienen.
Im Gedicht Teilchen, gewidmet seiner Mutter
Flor Maria, findet sich in der letzten Strophe des
ersten Teiles des Langgedichts ein Eingestandnis,
das wohl von jedem Dichter stammen könnte.
Mit der Erinnerung begegnet er der Gegenwart,
die einem meist unzulänglich erscheint, aber an
dieser Schnittstelle, die eine sehr schmerzvol¬
le sein kann, entzündet sich das künstlerische
Schaffen — zumal für einen Menschen, der sich
vom Land seines Aufwachsens, seiner Sozialisa¬
tion, verabschiedet hat, um ein Leben in einer
fremden und befremdenden Kultur zu wählen.
Zu Beginn des Gedichts heißt es, noch in po¬
sitiv besetzten Bildern: „Wunderbare Tugend
des Erinnerns/ in weiser Gefälligkeit zu filtern/
durch feines Gewebe/ lässt auf glatte Strände
Licht fallen/ das wie Wasser glänzt/ Hoffnung
im Halbschlaf/ treibend auf dem Meer des Uni¬
versums.“ (S. 47)
Doch es bleibt nicht bei dieser Idylle ohne
Sturm und Brandung. Es gilt ein „Feuer und
Funkeln“ aus der Dämmerung zu schlagen,
die jenes „Ufer der Welt“, sein Exil, für ihn
darstellt. Hier, in Europa, erscheint ihm zwar
alles „geistreicher“, aber es fehlt ihm zum Gan¬
zen etwas Wesentliches. Das Ende des Tages
findet ihn vor mit seinen „Mängeln“, die er als
„kunstvoll“ bezeichnet: Die darauf folgenden
fünf Sequenzen des Gedichts, eines Gedichts mit
langem Atem, könnten nicht besser aufzeigen
wie der Vers, die Kunst, aus einem Defizit ge¬
boren, diese „Mängel“ relativiert, überwindet.
Die Erinnerungen werden ihm schließlich zu
einem Meifßel, mit dem er, im weitesten Sinne,
imaginierte Skulpturen und Bilder gestaltet. Er
formt aus den Erinnerungen, die nicht zwingend
seine persönlichen sein müssen - sie sind älter
als der Dichter —, präzise poetische Bilder. In
einem weiteren Iransformationsprozess zerfällt
sein Bewusstsein in Teilchen, die sich schließlich
auflösen in einem „Ganzen“ (hier zitiert er, so
ziemlich am Höhepunkt dieses Gedichts, um
seine poetische Absicht zu verstärken, Octavio
Paz: „como una polvareda llameaba, es loderte
wie eine Staubwolke“, und „particula que arde
en lejania, Teilchen das in der Ferne brennt“
S. 66/67).
Jüngere, möglicherweise in Österreich ent¬
standene Gedichte erscheinen mir schlanker,
lakonischer, so beispielsweise Atardeceres/Abend¬
dämmerungen oder Destino/Schicksal: „Blätter
fallen/ auf die Stille meines Hauses/ das Kunst¬
licht begleitet mich/ jene alte Schwester, die
meine schlaflosen Nächte bewacht“ (S. 139).
Viele der Gedichte Castahedas sind jedoch
aufgeladen mit Bildern, die aus seiner alten
Heimat respektive aus der Tradition der Dich¬
tung Lateinamerikas stammen, gebrochen durch
moderne Tendenzen europäischer und nord¬
amerikanischer Dichtung. Er bedient sich aber
auch der Form des Haikus, lässt sich von den
dreidimensionalen Gestaltungen frühindischer,
hinduistischer Tempel inspirieren. Das Ergebnis
ist jedoch nicht, wie man meinen könnte, eine
postmoderne, eklektizistische Dichtung. Die
Grundierung bleibt eine existentielle, Bilder der
Vergänglichkeit, aber auch einer ursprünglichen
Vitalität, unauslöschlich mitgebracht aus seiner
ersten Heimat, ziehen sich durch fast alle seine
Gedichte; und er beharrt, als Gegenentwurf
zur Beschleunigung, zu einer Vermarktung der
Gefühle und Kapitalisierung aller Lebensberei¬
che, auf „die Radikalität der Kontemplation“
(Gerhard Kofler).
Auffällig auch die Präsenz von Farben, von
elementaren, seit Jahrtausenden die Kulturen
der Menschheit begleitenden Dingen und Ele¬
menten wie das Feuer — und was es vermag,
auch als Metapher, mit all den Bedingtheiten,
die mit diesem Element zusammenhängen, so
auch Kälte und Schatten. Er feiert phantastische
meteorologische Erscheinungen und lobt den
Regen, den viele hassen, weil er ihre Kleidung
und damit ihr Äußeres verformt, sie lächer¬
lich macht: Feuchte Kleider hängen von ihren
„ehrgeizigen Skeletten“ (Flucht der Skorpione,
S. 141).
Einige Marginalien zu den durchaus gelun¬
genen, mehrfach lektorierten Ubersetzungen:
Das Weglassen der bestimmten Artikel vor den
Substantiven hat eine Verknappung der Verse
zufolge; dadurch geht aber auch an (manchen
Stellen) der Rhythmus des Originals verloren.
Hier ein Beispiel aus dem Gedicht Cancién
Antigua/Altes Lied. Aus dem trochäischen Vers
»y los muslos las junturas las caderas“ wird ein
jambischer „und Schenkeln Gelenken Hüften“,
und der ursprüngliche Rhythmus aus betonten
und unbetonten Silben geht verloren ($. 14/15).
Die Übersetzungen aus dem Spanischen von
Helga Anderle, Hajnalka Linhart, Numidia Ro¬
dulfo und Bernhard Widder folgen zumeist sehr
genau der Semantik des Originals, was naturge¬
mäß zur Folge hat, dass für die Endreime und
Assonanzen des spanischen Originals Entspre¬
chungen im Deutschen gesucht werden müs¬
sen. Und zumeist auch gefunden wurden, die
Übersetzungen retten die Poesie des Originals,
die ja mitgelesen werden kann, vielleicht so¬
gar mitgelesen werden sollte, da der Klang der
Verse im Spanischen doch eine ganz speziell
andere, wie mir scheint, dunklere Atmosphäre
aufbaut. Ein Beispiel: Die doch relativ helle
Endsilbe „-en“ in vielen deutschen Vokabeln,
Substantiven wie Verben, entspricht in etwa
den Endsilben -as, -os und -es im Spanischen.
Erschienen ist der sorgfältig edierte Band nicht
in der Exilheimat des Dichters, sondern im mu¬
tigen deutschen Verlag ,,Stadtlichter Presse“, der
sich vor allem mit Ubersetzungen der Dichtung
der nordamerikanischen Beat Generation einen
Namen gemacht hat.
Die Genese der jüngsten Publikation lässt
sich anhand des Vorworts von Gerhard Kofler
und des Nachworts des Herausgebers Bernhard
Widder bis zum Ende der 1990er-Jahre zurück¬
verfolgen. Endlich, nachdem der Dichter 60
Jahre alt geworden ist, konnte in diesen po¬
esiefeindlichen Zeiten das Projekt mit seiner
zeitlosen Lyrik realisiert werden.
Richard Wall
Darley Rojas Castaneda: Türkisfarbenes Tor.
Gedichte. Hg. von Bernhard Widder. Aus dem
Spanischen von Helga Anderle, Hajnalka Linhart,
Numidia Rodulfo und Bernhard Widder. Wenzen¬
dorf: Stadtlichter Presse 2013. 164 S.