OCR
Idee, der hat einen Gedanken und der ist es wert, aufgegriffen zu werden. Wenn die Teilnehmer „aufatmen, dass ihnen gezeigt wurde, wie man das machen kann“. Alkoholismus ist keine Krankheit. Alkoholismus ist eine Verzweiflung. Das verfasst Josef Zierl, der fünf Jahre in Haft und fünf Jahre auf der Straße gelebt hat, und: Ich habe seit zwei Wochen angefangen zum Trinken aufzuhören. Seine beiden Texte sind schr konkrete Beobachtungen, die eben weil sie es sind, buchstäblich und im positivsten Sinne eine unverschämte Unmittelbarkeit haben und greifbar werden. Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen gewinnt noch mehr an Unmittelbarkeit, indem mit einem furchtlosen Blick nicht nur auf das Werkzeug, auf die Wörter, sondern vor allem auf sich selbst und seine eigene Geschichte geblickt wird. Dass die Texte von Bildern der Fotografin Aleksandra Pawloff begleitet werden und wir die Gesichter der Autoren sehen, macht diesen Eindruck umso stärker. Einer der bekanntesten Romane von Renate Welsh ist Johanna, der 1979 erschienen ist. Er hat das Leben der jungen Johanna zum Inhalt, die als Magd auf einem Bauernhof Jahre harter Arbeit und Missachtung erleiden muss, bis sie es irgendwann schafft, sich selbst daraus zu befreien. Frau Welsh verbringt ihre Wochenenden im winzigen Ort Hilzmannsdorf in Niederösterreich, wo sie in Johannas chemaligem Haus wohnt. Sie hat für ihren Roman jahrelang recherchiert, hat die Arbeiten verrichtet, die auch Johanna als Magd verrichten musste, hat sich hineingedacht in diesen Menschen, hat sich hineingelebt, hat mit Johanna gesprochen, hat sie und ihre Geschichte genau kennengelernt. Renate Welsh erwähnt, wie man einander zu Jom Kippur wünscht, ins „Buch des Lebens eingeschrieben zu werden“. Und vielleicht fühlt es sich wirklich ein bisschen nach Legitimation an; nach etwas, das überdauert. „Über die Nachbarin ham’S a Biachl gschriebn und i muaß ma selber an Grabstein kaufen“, hat Frau Welshs Nachbarin gesagt. Sie mag sich Gedanken darüber gemacht haben, was es heißt, in ein Buch eingeschrieben zu werden — oder sie hat gespürt, dass es gewichtig ist. „Ich weiß noch, wie ich gekämpft habe beim Schreiben der Johanna und dass ich immer gedacht habe, ich darf nicht diese Frau, die ich bewundere und mag, verfälschen, indem ich ihr die Sprache meiner bürgerlichen Herkunft überstülpe. Ich muss ihr die Sprache geben, die gerade noch ihre sein könnte. Denn alles andere wäre auf eine seltsame Art herablassend.“ Wir sprechen über den Respekt vor Texten, vor Sprache, über den Respekt vor Figuren — und vor deren Sprache — und über den Respekt den realen Menschen gegenüber, die in manchen Fällen in diese Figuren hineinfließen. Wir sprechen über Grenzüberschreitungen. Und darüber, inwieweit Schreiben über andere vielleicht immer eine Grenzüberschreitung darstellt. „Ich wollte der Originaljohanna das Manuskript geben und Jahre später einmal habe ich sie im Hof sitzen sehen, das Buch lesend. Und ich habe mich nicht getraut, zu ihr zu gehen. Denn ich hatte in der Geschichte eine Figur erfunden, von vorn bis hinten. Ich habe sie als Gegengewicht für meine Protagonistin gebraucht und ich habe Johanna damals in der Sonne lesen schen und mir gedacht — was wird sie jetzt sagen? Am nächsten Tag haben wir uns auf der Straße getroffen und sie hat gesagt: ‚Also eines möchte ich nur wissen: wieso hast du auch alles geschrieben, was ich dir nicht gesagt habe?” Vielleicht ist genau das eine Art der Grenziiberschreitung, die passiert, wenn man so genau hinsieht, dass eine Stimmigkeit eintritt, eine Unverfalschtheit, und die Sprache und das Hinsehen werden so unmittelbar, dass gesehen und geschrieben werden kann, was der Angesehene nie ausgesprochen hat. Renate Welsh hat eine Figur erfunden, die in Wirklichkeit real existiert hat, und zwar innerhalb von Johanna selbst. »Offensichtlich merkst du schreibend etwas, das du nur zuhörend nicht bemerken würdest. Und ich glaube, das ist das, was diese Grenzüberschreitung ausmacht. Du dringst ein, wo du eigentlich nichts verloren hast, aber wenn du es mit großer Achtung tust, dann ist es kein verbotener Eingriff, sondern es kann für den anderen auch die Funktion einer Art Befreiung haben, weil es die verlorenen Puzzlesteine im Mosaik eines Lebens zusammenfügt und zeigt, es ist doch irgendwo ein Bild zu erahnen in diesem patscherten Leben, von dem man eben nicht weiß, wo es hingegangen ist.“ In der VinziRastschreibwerkstätte haben sich die Autoren auf diese Weise selbst angesehen und dadurch erlebt, was Literatur kann: Sie kann jemanden Aspekte von sich selbst entdecken lassen, die dabei helfen, sich im Ganzen besser zu erkennen. Sie kann schonungslos sein, sie kann einsam sein, sie kann aus Leerstellen bestehen, kann Leerstellen unterdrücken, sie kann laut sein oder Mai 2014 19