im Auftrag der Regierung ein lesenswertes Buch mit dem Titel
„Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen
zur Zeit des Nationalsozialismus“, das 2005 im Zürcher Limmat¬
Verlag erschienen ist.
Die Werke Bickenbachs und Krummenachers entstanden kurz
nachdem die Schweizer Politik zwischen 1933 und 1945 durch
die Berichte der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz —
Zweiter Weltkrieg“ (Bergier-Kommission) noch einmal gründlich
erforscht und neu dargestellt worden war. In ihrem Fliichtlings¬
bericht von 1999 nahm diese Kommission eine ahnliche Haltung
ein, wie ich sie in „Grüningers Fall“ auf Grund der vielen Gesprä¬
che mit Überlebenden gefunden hatte. Nicht die Sichtweise der
Behörden stand im Mittelpunkt, nicht eine abstrakte, von oben
definierte Staatsraison, sondern die Perspektive der Flüchtlinge, die
entweder aufgenommen oder abgewiesen wurden: Das Schicksal
jener Leute also, bei denen es ums Überleben ging.
Für die verfolgten Jüdinnen und Juden spielten die Fluchthelfer
eine zentrale Rolle. Nach Grüningers Rehabilitierung schien es
folgerichtig, auch die übrigen Leute zu rehabilitieren, die im Laufe
der Nazizeit in der Schweiz für ihre Hilfeleistungen an Flüchtlin¬
ge bestraft worden waren. Ein entsprechender Vorstoß von SP¬
Nationalrat Paul Rechsteiner - er hatte seit 1984 für Grüningers
Rehabilitierung gekämpft — führte nach langen Verhandlungen
und Abklärungen zum Erfolg. Auf den 1. Januar 2004 trat ein
„Bundesgesetz über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flücht¬
lingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus“ in Kraft, das fünf
Jahre lang gültig blieb: Betroffene Fluchthelfer, ihre Nachkommen,
aber auch Menschenrechtsorganisationen konnten während dieser
Frist der Rehabilitationskommission der Bundesversammlung
konkrete Falle von Fluchthilfe zur Beurteilung vorlegen. Die
Kommission hatte ihrerseits die Méglichkeit, ein paar eigene
Forschungen anstellen zu lassen und ein halbes Jahrhundert nach
der Bestrafung die Urteile oder Strafbefehle gegen Fluchthelferin¬
nen und Fluchthelfer aufzuheben: 137 Manner und Frauen hat
die Rehabilitationskommission auf diese Weise gewiirdigt — von
der jiidischen Lehrerin Aimée Stitelmann aus Genf, die ihre Re¬
habilitation einige Monate vor dem Tod noch erlebte, über den
bereits 1946 gestorbenen Zollbeamten Robert Matthey, der im
Herbst 1942 eine österreichische Jüdin nicht zurück nach Frank¬
reich abgeschoben hatte und dafür nach Kriegsende, im Oktober
1945, acht Monate Gefängnis bedingt kassierte. Mehr als fünfzig
Helferinnen und Helfer sind aufgrund von Gesuchen der 1998
gegründeten Paul Grüninger Stiftung rehabilitiert worden: Dazu
gehörten jene Fluchthelfer, die in meinem Buch vorkommen, aber
auch zahlreiche Fischer aus Hochsavoyen, die im Sommer 1942
fast Nacht für Nacht Jüdinnen und Juden über den Genfersee ans
Schweizer Ufer ruderten, Arbeiter und Bauern, die im Jura oder
in den Alpen ihre Passeurdienste leisteten, oder beherzte Bürger
wie die Tierarztgattin Marthe Uehlinger aus Basel, die 1939 mit
ihrem Mann, zwei Angestellten und einer Untermieterin einem
sechzehnjahrigen jiidischen Madchen zu einem falschen Passier¬
schein verhalf und dafür vor das Strafgericht kam. Seit 2009 ist die
Rehabilitierung der Fluchthelfer abgeschlossen, eine umfassende
Darstellung ihrer Geschichten steht noch aus.
Wenn die Zeitzeugen tot sind, verändert sich die Vergangenheit.
Zum Beispiel gewinnt die behördliche Darstellung, die in Akten
festgehalten wurde, wieder an Gewicht. Während Richard Dindo
seinen Dokumentarfilm „Grüningers Fall“ 1997 mit Überleben¬
den drehen konnte, wird die Geschichte in Alain Gsponers „Akte
Grüninger“ jetzt fiktionalisiert. Während mein Buch und Dindos
Film die traditionelle Perspektive umkehrten und aus der Sicht
kleiner Leute auf den gerechten Landjägerhauptmann und die
verbrecherische Flüchtlingspolitik blickten, zeigt der Spielfilm
den Fall aus der Sicht von Beamten: Eigentliche Hauptperson
ist ein Bundespolizist, der Grüninger und seine Flüchtlinge im
Auftrag der Berner Fremdenpolizei ins Verderben stürzt, obwohl
er selber sich im Lauf der Untersuchung sympathisch läutert und
am Ende sogar höchstpersönlich zwei Flüchtlingskinder rettet.
Dieser Bundespolizist, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat,
wurde aus dramaturgischen Gründen erfunden. Inhaltlich bedeutet
er die Rückkehr zu einer Perspektive von oben.
Stefan Keller, geb. 1958 in Birwinken (Thurgau), Historiker, Jour¬
nalist, Schriftsteller, schrieb u.a. im Jahrbuch 12 der Theodor Kramer
Gesellschaft (Wien, Klagenfurt 2012) über „Zweierlei Zeitzeugen.
Aus der Schweizer Vergangenheitsdebatte“ und wird im Oktober
in Wien an der Tagung über Schlepper und Exil (veranstaltet von
der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung) teilnehmen. Er
ist Redakteur der Zürcher WochenZeitung (WOZ) und hat Dreh¬
buchautor und Regisseur bei der Produktion von „Akte Grüninger“
historisch beraten. Kellers Buch „Grüningers Fall. Geschichten von
Flucht und Hilfe“ ist eben in der fünften erweiterten Auflage im
Rotpunktverlag erschienen.
Zum „Fall Grüninger“ schrieben in ZW bzw. MdZ seit 1995
u.a. Cecile Cordon, Sophie Haber, Paul Parin und Ruth Roduner¬
Grüninger.