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aufgegeben haben. Vor allem aber ist es der blauschwarze See am
Fuße der schützenden Berge, jenseits deren nichts sich findet als
die unüberwindlichen Alpen - ein Gefühl, wie mit dem Rücken
zur Wand zu stehen. Man ist so hoch und geschützt, niemand
kann einen anfassen. Kein Wunder, dass sowohl Juden als auch
Nazis die Gegend liebten.

In den ersten Jahren wohnten wir in der Villa Kerry, dem höchst¬
gelegenen Haus des Dorfes. Es gehörte Christl Kerry, Altaussees
bekanntester Künstlerin. Christl war Jüdin. Auch sie hatte seit
ihrer Kindheit die Sommermonate im Dorf verbracht; und 1937
zogen sie und ihre Mutter dauerhaft nach Altausse. Sie überlebte
dort den Krieg, geschützt von ortsansässigen Funktionären, die
sie schon ihr ganzes Leben lang kannten. Ihr Haus jedoch — wir
wissen es— hatte Kaltenbrunner in den letzten Wochen des Krieges
als Hauptquartier gedient. Eines Nachts, so erzählte sie uns, hörte
sie ein Klopfen an der Tür. Es war Eichmann. Sie schmetterte die
Tür ins Schloss, und er verschwand. Sie erzählte uns außerdem
von Kaltenbrunner, der einen Teil seines gewaltigen Geld- und
Goldschatzes im Gemüsebeet neben der Villa vergraben hatte.
Die Amerikaner hätten alles mitgenommen, sagte sie uns, doch
ich suchte trotzdem in jedem Winkel, wenn ich mich von nie¬
mandem beobachtet glaubte.

Später wohnten wir in einem anderen Haus, wo eine andere
jüdische Freundin während des Krieges versteckt gewesen war;
auch sie kam jeden Sommer von Wien zurück nach Altaussee,
um sich zu uns zu gesellen. Meine Mutter und sie waren aber
nicht die einzigen, die wiederkamen. Es gab viele: die Kaufmanns
aus Wien, Stefan, ein Freund meiner Mutter, und seine Frau; die
Wassermanns aus Kanada und Dr. Georg Lessner aus Argentinien;
die Brüder Georg und Erich Steger aus Wien und England; die
Familie Askonas, Dr. Josephine Stross, Liesl Frank und Annie
Strein, ebenfalls aus England; und aus den USA die Familien
Schaar, Demmer und Anastas, Dr. Edith Schmidt und Dr. Fritz
Eirich, Robert und Mariedl Kann, Henrietta Wachsmann, Steffi
Blitz, Lies! Collins und Hedi Hitsch; außerdem Gustav Freud, ein
Cousin Freuds, der ebenfalls aus den USA kam und Altaussee 28
Jahre lang jeden Sommer besuchte. Wir haben viele von ihnen
regelmäßig getroffen, durch die Vermittlung von Ursula Kals¬
Friese, einer Wienerin, die 1961 nach Altaussee gekommen war,
einen Minenarbeiter geheiratet hatte und geblieben war — und die
mit allen jüdischen RückkehrerInnen Freundschaft schloss und
außergewöhnliche Wiederschensfeiern bei Kaffee und Kuchen
organisierte‘. Bei einem dieser Treffen musste auch Lore gewesen
sein, eine ältere Frau, die Ursula unter ihre Fittiche genommen
hatte und die zweifelsfrei auf der anderen Seite gestanden hatte.
Vielleicht hatte Ursula Entnazifizierung im Sinn, ich aber fragte
mich, ob nicht vielleicht das Gegenteil der Fall sei, als Lore den
Wohlstand der jüdischen Rückkehrer mit ihrem eigenen kargen
Überleben verglich. Meine Eltern indessen freundeten sich auch
mit ihr an und besuchten sie jeden Sommer bis zu ihrem Tod.
Sie war ihnen schr zugeneigt; und diese Freundschaft schien sie
alle auf merkwürdige Weise glücklich zu machen, es wirkte wie
eine kleine private Aussöhnung.

Fern von Altaussee jedoch, zurück in Kanada und England, stießen
wir bei unseren FreundInnen auf Unverständnis. Wie konnten
meine Eltern in ein Land zurückkehren, aus dem sie gerade noch
mit dem Leben davongekommen waren und dessen Menschen
sich bereitwillig an der Ermordung von Millionen beteiligt hatten?

Hörten sie von Altaussee als letztem Rückzugsgebiet und wie der
Ort ab 1945 von Nazis überschwemmt worden war (Eichmanns
Familie zum Beispiel lebte dort bis 1952), verstanden sie es noch
weniger. Es war schlimm genug, pflegte ich zu antworten, dass sie
einmal aus ihren Häusern und Wohnungen geworfen wurden.
Wenn sie ihr Zuhause nun zurückhaben wollten, warum sollten
sie es nicht tun? Sie liebten Österreich, wie britische Juden Gro߬
britannien und kanadische Jüdinnen Kanada lieben. Wenn man
euch aus London und Montreal vertriebe, würdet ihr es nicht
vermissen? Warum die Nazis am Ende doch gewinnen lassen?

So argumentierte ich und ich glaubte es. Manchmal aber hatte
ich selbst meine Zweifel. In Deutschland gab es die Auschwitzpro¬
zesse und in Israel den Prozess gegen Eichmann. Aber in Öster¬
reich gab es nur schr wenige Prozesse und kaum Verurteilungen.
Der Westen wollte die OsterreicherInnen, deren Land wir zur
Pufferzone gegen den Osten bestimmten, nicht verstimmen.
Also insistierten wir nicht auf die Auseinandersetzung mit ihrer
Vergangenheit, wie wir es bei den Deutschen getan; und wer
ginge freiwillig in Sack und Asche, gabe man ihm oder ihr die
Möglichkeit? Sicherlich nicht die ÖsterreicherInnen und schon
gar nicht in Altaussee. Dort war das Schweigen, von Ursula, die
mit JournalistInnen und HistorikerInnen sprach, abgeschen, bis
Mitte der 1980er ohrenbetäubend.

Dann, eines Sommers, kamen wir wieder nach Altaussee und
fanden eine Ausstellung im Salzbergwerk vor. Sie war klein und
eher unscheinbar, versteckt in den Minen weit über dem Dorf¬
aber sie kennzeichnete die WiderstandskämpferInnen eindeutig
als die richtige Seite und Nazideutschland als kriminelles Regime.
Einige Jahre später eröffnete am Gelände des Eagles Nest, zwölf
Meilen von Salzburg entfernt, ein bescheidenes kleines Museum,
das Hitlers Verbrechen gegen die Juden zum Hauptgegenstand
hatte. Und wieder einige Jahre später trafen wir auf eine neue
Ausstellung. Sie hieß 1945: Ende & Anfang im Ausseerland. Dieses
Mal war sie groß, gut zugänglich und aufwendig illustriert. Die
Ausstellung war im Kammerhofmuseum des benachbarten Bad
Aussee zu schen und dauerte ein ganzes Jahr, von 1995 bis 1996.°
Gaiswinkler und der Altausseer Widerstand waren zwar weiterhin
ein wichtiger Teil der Ausstellung, aber Pöchmüller und Högler
wurden endlich in den Mittelpunkt der Bergwerksgeschichte ge¬
rückt. Für sie selbst war es zu spät: Beide waren vor vielen Jahren,
ohne die ihnen gebührende Anerkennung, gestorben. Altaussees
Schweigen aber war gebrochen, seine Nazivergangenheit kam
endlich ans Licht — wie die gestohlenen Schätze fünfzig Jahre zuvor.

Das alles ereignete sich vor fast zwanzig Jahren. Seitdem ist Alt¬
aussees „Gleichschaltung““ (dr. im Original, Anm. d. Übersetzers)
mit der Geschichte weiter vorangeschritten, auf eine langsame
und sehr österreichische Art und Weise.

Zum Beispiel: Einer seiner bemerkenswertesten Söhne war
(naturgemäß) ein Bergsteiger. Paul Preuß war Wiener - und „Halb¬
jude“. Er verbrachte, wie so viele andere auch, jeden Sommer in
Altaussee. Hier wurde er zu einem Pionier des Freikletterns; er
verachtete jegliche technische Hilfsmittel und verwendete nichts
außer einem Seil, einem Eispickel und in Notfällen einen Mauer¬
haken. Luis Trenker, der große Pionier des Bergfilms, nannte ihn
den besten Bergsteiger, den Österreich je hatte, fürchtete aber,
dass er jung sterben werde. Und so geschah es auch im Jahr 1913.
Nur 27 Jahre ist er alt geworden. Später, als der Alpinismus zum
sportlichen Aushängeschild der Nazis wurde, löschte man den
Juden Preuß aus den Annalen der Geschichte. Jahrelang fand ich

Mai 2014 27