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endgültig zu einer „Besatzerin“ und Staatenlo¬
sen, wie fast ein Drittel der russischsprachigen
Bevölkerung der Republik Estland. Als Nächstes
wurde der Künstlerin die Wohnung gekündigt,
aber immerhin durfte sie nun ins Ausland gehen,
da die Grenzen ihres Geburtslandes nicht mehr
verschlossen waren; das war für sie aber auch
schon der einzige Vorteil. Die Menschenkette
und die Treue zur Republik Estland hatten der
russischen Künstlerin nicht zu der erhofften
Freiheit verholfen, sondern ihr den neuen und
für sie vollständig überraschenden Schimpfnamen
„Besatzerin“ eingebracht, nachdem ihre Eltern
in der Stalinzeit deportiert worden waren, sie in
Tallinn geboren und ständig von den estnischen
Sowjets schikaniert worden war.

In Litauen hat man ja daraufverzichtet und allen
litauischen Sowjetbürgern einen Pass gegeben.
Im Gegensatz dazu warten in Riga und Tallinn
finnische Mannsbilder auf junge Russinnen,
deren Eltern ohne alle Menschenrechte dastehen.
Ein finnischer Journalist war nicht in der Lage,
hier einen Zusammenhang herzustellen, so wie
es Europa nicht schafft, den Zusammenhang
zwischen unserer staatlich geförderten Zuhälterei
und den Verbrechen des Kommunismus herzu¬
stellen! Das haben sich alles dieselben sowjeti¬
schen Funktionäre ausgedacht. Aber nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion leider nicht
mehr alleine, sondern gemeinsam mit chemali¬
gen estnischen Dissidenten und der estnischen
Kulturelite. Und natürlich auch zusammen mit
jenen Esten, dieam Ende des Zweiten Weltkrieges
ins Ausland geflüchtet waren.

Wie unser Präsident Toomas Hendrik IIves.
Er ist in Amerika aufgewachsen und weiß ganz
genau, dass „die russische Sprache die Sprache
der Okkupanten ist“! (Zeitung „Bund“, Januar
2012) — und nicht die Sprache von Bulgakow,
Achmatowa, Mandelstam, Pasternak, Brodsky...

Die Schweiz liebe ich nicht darum, weil es
dort schöne Berge und das „absolute“ Bank¬
geheimnis, sondern vielmehr darum, weil es
dort vier Staatssprachen gibt. Auch in Finnland
gibt es zwei Staatssprachen, obwohl Schwedisch
auch eine Sprache von ehemaligen Besatzern ist.

Wie ist es nun in Moskau, wo alle Russisch
sprechen und die Staatssprache kein Problem
darstellt?

Gerade in Moskau beginne ich, Armenier von
Russen, Russen von Juden zu unterscheiden,
obwohl ich bei der Abstammung nie ganz sicher
bin. In Estland, vor allem in der Kleinstadt, schien
alles ganz klar: Die Estnischsprachigen nannte
man Esten, die Russen Okkupanten. Niemand
musste sich mit genaueren Bestimmungen und
Rechtfertigungen plagen. Vom ersten Wort, das
jemand sprach, wusste jeder Este Bescheid: Wer
reines Estnisch sprach, gehörte zu uns, wer Est¬
nisch mit Akzent sprach, war ein Kriecher, wer
Russisch sprach, war hochmütig, unhöflich und
kriminell — bei so einem musste man mit allem
rechnen. Womit genau, wussten sie nicht zu sagen,
denn mit einem von „dieser Sorte“ unterhielt
man sich nie lange genug. Mit Fremden sprach
man einfach nicht. Sie hatten schlicht wenig

Gelegenheiten, Estnisch zu lernen. Viele Esten
sind diesbezüglich absolut hart und sicher, so
wie es einmal in Südafrika zwischen Weißen und
Schwarzen war. Keine Beziehungen und Punkt.
Die Russen haben im estnischen Leben keinen
Platz, versichert mir ein Schriftsteller, und sie
können auch keinen haben. Sie sollen gehen,
verschwinden — die Esten brauchen sie nicht.

Ich weiß nicht, ob diese Kollegen Moskau so
verwirrend fänden wie ich. Akzentfreies Estnisch
hat für uns immer eine sichere Grenzlinie zwi¬
schen uns und den Fremden bedeutet, sei der
Name nun Iwanov oder Kuuskmaa, Birzukaite
oder Voormaa, Stanko oder Lehtsalu, Bachmann
oder Mandmets. Wer unsere Muttersprache
ohne Akzent spricht, wird voll akzeptiert; der
Familienname kann dann auch russisch sein.
So sonderbar ist die estnische Liebe zu unserer
Muttersprache, die nur drei Millionen weltweit
und eine Million in Estland sprechen. „Reines“
Russisch sprechen aber in Russland Armenier,
Kasachen, Kirgisen — und man hilt sie gar nicht
fiir Russen.

Ich reiße in Moskau die Augen auf, als mir
jemand sagt, er sei seinem Pass nach reiner Rus¬
se. Kaum ist er weg, sagen die Gastgeber: „Ein
Jude, wie er im Buche steht!“ Es hilft nichts,
dass die Eltern Russen sind, irgendwie weiß
immer jemand, dass Großmutter, Großvater
oder Onkel Juden waren.

Die Russen sind beleidigt, weil viel zu viele
Angehörige anderer Völker Russisch gelernt ha¬
ben. Die Esten hingegen stört es, dass nur so
wenige andere es vermocht haben, ihre Sprache
zu erlernen. Welche Art, als Volk stolz zu sein, ist
wohl die bessere? Beim Streiten lassen sich überall
neue Feinde finden. Einer Versöhnung bringen
uns solche Diskussionen allerdings nicht näher.

Trotzdem geht sofort ein langes Gespräch
über die Menschenrechte los — wegen meines
Sprachgebrauchs, der meine Herkunft aus dem
Baltikum verrät. Man hört so was gleich, wie
eine falsche Note in einem geliebten klassischen
Musikstück. Deshalb würde ich Russisch gern so
gut sprechen wie die hier lebenden Juden und
Armenier. In Gesellschaft sagt mir niemand,
ich spräche so schlecht, als käme ich frisch aus
dem Urwald. Aber ein paar Sätze reichen und
schon haben wir ein Gesprächsthema - die est¬
nische Ungerechtigkeit in Sachen Sprache. Ich
werde mit Berichten überhäuft, wie estnische
Beamte die Russen geringschätzig, verächtlich
und erniedrigend behandeln. Nicht allein die
beim Militär — nein, alle. Und ich sehe diese
Armenier erstaunt an, die hier leidenschaftlich
das Recht der Russen verfechten, ihre eigene
Muttersprache aber vergessen haben.

Erst in Moskau lerne ich auch das Durchhalte¬
vermögen unseres kleinen Volkes kennen, wenn
es darum geht, das Erbe der Vorfahren zu bewah¬
ren und gerade jene Eigenschaften zu erhalten,
die niemanden faszinieren: sich bedeckt halten
bis zur Ausdruckslosigkeit, sich in Gesellschaft
ausgewogen zeigen bis zur Gefühllosigkeit, sich
selbst bewerten bis zur Unwissenheit, stolz sein
bis zum Hochmut!

Bulgakow schilderte das neue sowjetische Leben,
das er sehr gut kannte. In seinen Romanen kann
ein Feind dein Leben retten und ein Freund ein
Fremder werden. In den Romanen der berühmten
finnischen Autorin Sofi Oksanen ist sowjetisches
Leben klar und eindeutig. Ein KGB-Offizier
kann nie ein ehrlicher Sowjetpatriot sein und
ein Russe ist notwendigerweise ein Zuhälter
und Vergewaltiger. Die finnische Autorin hat
selbst nicht in Sowjet-Estland gelebt, nur ihre
Mutter — jedenfalls bis zur Heirat mit einem
Finnen. Aber die kleine Sofi hatte ihre Großmutter
immer in den Sommerferien besucht und ihre
Beschreibungen des Hauses, in dem die alte
Estin lebte, gefallen mir am besten, weil man
dort den Geruch des echten Lebens spürt. In
den Romanen von Oksanen genieße ich mehr
die literarische Seite, in jenen Bulgakows den
Scharfblick und die Lebensklugheit. Gerade
dieser Scharfsinn hat Stalin so böse gemacht,
nicht die literarische Gabe. Die literarisch be¬
gabten Autoren, die staatstreu waren, konnten
ja in der Sowjetunion sehr gut leben.

Romane von Bulgakow und Pasternak ma¬
chen mich klüger, menschlicher, edelmütiger.
Die Romane von Oksanen machen die Esten
selbstbewusster, aber das macht auch der Fantasy¬
Roman „Harry Potter“ mit allen Kindern der
Welt, weil man nach der Lektüre dieser Bücher
die eigenen Eltern nicht mehr so sehr ehren und
achten muss — ein Kind kann doch selbst ein
Zauberer sein, etwas viel Wertvolleres! Und die
Esten macht auch der berühmte Satz unseres
Präsidenten Toomas Hendrik Ilves selbstbewusster
und schuldloser: „Die russische Sprache ist die
Sprache der Okkupanten!“

Die jungen Esten können kein Russisch mehr.
Heute sprechen junge Russen und junge Esten
nicht Estnisch miteinander, sondern Englisch.

Es gibt auch tragikomische Geschichten. Ich
gestaltete Mitte der 1990er Jahre im Estnischen
Staatlichen Rundfunk eine Sendung über klassische
Musik und fand im Musikarchiv eine Aufnah¬
me, auf der ein weltberühmter russischer Chor
Lieder des norwegischen Komponisten Edvard
Grieg singt, und ging damit auf Sendung. Am
nächsten Tag sagte mir die junge Musikleiterin,
dass sei kriminell gewesen: norwegische Lieder
auf Russisch. Nach dieser Sendung hatte ich keine
Möglichkeit mehr, meine Sonntags-Sendungen
im Rundfunk fortzusetzen.

Ich liebe Bulgakow, obwohl er „in der Sprache
der Okkupanten“ geschrieben hat. Ich liebe auch
Andreas Itens humorvolle Werke, obwohl die
deutsche Sprache für mich auch „die Sprache
der Okkupanten“ sein könnte, weil die Nazis
während des Zweiten Weltkrieges meinen Gro߬
vater (den Vater meines Vaters) im Gefängnis
getötet haben. Ich habe zu viele Freunde, die
„die Sprache der Okkupanten“ sprechen, egal
ob Deutsch oder Russisch. Und mit solch treuer
Liebe zu meinen Freunden ist es jetzt schwierig,
in meinem kleinen Heimatland zu leben, wo ein
Präsident so genau weiß, welche Sprache... Meine
Muttersprache ist damit nicht zum menschli¬
chen Kommunikationsmittel geworden, sondern

Mai 2014 61