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Die Einträge sind über lange Strecken kurz,
aber voll mit genauen Gewichtsangaben von
Brot, von Zucker, von Fett. Sie hört nicht auf,
von den Menschen in ihrem Umfeld zu be¬
richten, doch der Fokus liegt auf der Nahrung.
Immer. So, wie es tatsächlich war: ein täglicher
Kampf um Nahrung. Die Rationen werden klei¬
ner, der Hunger größer und die Kräfte weniger.
Lenas Verzweiflung nimmt überhand:

„Ehrlich gesagt, wenn Aka stirbt, wird das
sowohl für sie besser sein als auch für Mama
und mich. (...) Aka ist nur ein überflüssiger
Esser. Ich weiß selbst nicht, wie ich diese Zeilen
schreiben kann. Aber mein Herz ist jetzt wie aus
Stein. (...) Wenn sie stirbt, sollte es nach dem
1. geschehen, dann bekommen wir noch ihre
Lebensmittelkarte.“

Im März 1942 wendet sich Lena zum ers¬
ten Mal mit einem Telegramm an ihre Tante
Schenja, die sie später in einer anderen Stadt bei
sich aufnehmen wird — Mama Lena und Aka
sind kurz hintereinander verhungert, Lena ist

siebzehn und auf sich allein gestellt.

Meistens ist ein Tagebuch kein Schriftstück, das
verfasst wird, um veröffentlicht zu werden. In
Lenas Fall ist es die unverfälschte Dokumenta¬
tion von zwölf Monaten ihres Lebens inmitten
der Leningrader Blockade. Essen bedeutet Leben
und darüber zu schreiben bedeutet für Lena viel¬
leicht, ein letztes Gefühl von Kontrolle aufrecht
zu erhalten. In Lenas endlosen Auflistungen
wird das Lesen immer erschöpfender, es kommt
ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit auf, ob das
je aufhören wird. Es ist eine Qual, sich durch
diese langen Passagen zu kämpfen. Andererseits
macht das Lenas Qual spürbar.

Etwa ein Monat vor dem letzten Tagebuchein¬
trag, der mit Lenas Evakuierung zusammenfällt,
passiert etwas Unerwartetes:

„Ich habe jetzt entschieden, mein Tagebuch
auf neue Weise zu schreiben. In der dritten Per¬
son. Wie eine Erzählung. Ein solches Tagebuch

Verfolgt man heute Nachrichten, politische
und intellektuelle Auseinandersetzungen oder
Gespräche in Schulklassen und am Stamm¬
tisch, so stößt man bald auf Schlagwörter wie
„Migration“ und „Asyl“. Debatten um den
Umgang mit „Fremden“ sind meist emotio¬
nal aufgeladen und erhitzen die Gemüter. Ein
Begriff, der, abgesehen von den jahrelangen
Auseinandersetzungen um die Ortstafeln in
Kärnten, seltener verwendet wird, ist jener der
Minderheit. Doch Zusammensetzung und
Dynamiken einer Gesellschaft sind sowohl im
historischen als auch im zeitgenössischen Blick¬
feld von der brisanten Gegenüberstellung von
Mehrheit und Minderheit geprägt. Das Buch
„Minderheiten. Ein tabubelastetes Thema“ der
beiden Autoren Jost W. Kramer und Robert
Schediwy ermöglicht dem Leser durch eine
Vielzahl an unterschiedlichen Zugängen und
Perspektiven eine intensive Beschäftigung mit
der Materie, zugleich eine Sensibilisierung für
deren Stellenwert in unserer Welt.

Eine zentrale Zielsetzung der Verfasser bildet
die fundierte Darstellung des in unterschiedli¬
chen Facetten auftretenden Verhältnisses von
Mehrheit und Minderheit(en). Vorstellungen
und Vorurteile sollen aus dem tabuisierten Ab¬
seits hervorgeholt und soziale Strukturen und
Dynamiken sachlich untersucht werden. Die
gängige Vorgehensweise der Vorurteilsforschung,
derlei Anschauungen allein als Angelegenheit
der Träger von Vorurteilen anzusehen, ohne
deren (partiellen) Wahrheitsgehalt zu prüfen,
wird skeptisch hinterfragt. Die gutgläubige Ig¬
noranz gegenüber realen Verhältnissen führe zu
weiteren Verschärfungen und öffne populisti¬
schen Politikern und Meinungsmachern die
Tore zum Erfolg.

Was hier angesprochen wird, steht wohl nicht
zufallig zu Beginn des Buches. Die vielseitige

Auseinandersetzung mit dem Thema Minder¬
heiten, gestaltet durch historische Riickblicke,
aktuelle Bezugnahmen und Ausblicke, ist letzt¬
lich von politischen Fragestellungen nicht zu
trennen.

Die Umkreisung dieses ,,tabubelasteten The¬
mas“ gewinnt den Leser schnell für sich. Es ist
ein leicht lesbares Buch, gleichzeitig dient es
aufgrund einer übersichtlichen Gliederung auch
als Nachschlagewerk. Die Co-Autorenschaft er¬
weist sich an keiner Stelle als störend. Dies ist
einer einheitlichen, stets klaren und verständ¬
lichen Sprache geschuldet. In erfrischenden
und kurzweiligen Formulierungen präsentie¬
ren sich die unterschiedlichen Beiträge in vier
Kapiteln: „Ursprünge“, „Zur psychosozialen
Dynamik“, „Wege in die Katastrophe“, „Zur
aktuellen Lage“.

Der Anfang des Bandes widmet sich einer
Annäherung des Begriffes der Minderheit ein¬
schließlich einer historischen Rückschau. Es
wird nicht versucht, eine einheitliche Definition
zu finden, vielmehr wird stets auf die Mannig¬
faltigkeit des Begriffes verwiesen. Wenn etwa
von der Eroberung Englands durch die Nor¬
mannen im 11. Jahrhundert, einer Herrschafts¬
Minorität, dem Prinzip des Söldnerwesens im
Mittelalter, eine Instrumentalisierung von Min¬
derheiten, den europäischen nachkolumbiani¬
schen Migrationen in die „neue Welt“ oder von
Versuchen der Zwangsassimilation nach dem
Ersten Weltkrieg und neuen Grenzziehungen die
Rede ist, sind die Möglichkeiten verschiedenar¬
tigen gesellschaftlichen Auftretens von Minder¬
heiten und dessen soziale Komplexitäten bald
erkennbar. Die Relevanz dieses geschichtlichen
Streifzuges für unsere heutige Zeit erklärt sich
von selbst, und der Leser kommt nicht umhin,
aktuelle Phänomene vor diesem Hintergrund
zu betrachten.

wird man wie ein Buch lesen können.“

Ist Lena sich selbst, ihrem Leben, ihrem Kör¬
per so sehr entfremdet, dass sie eine Lena auf
dem Papier entwerfen muss?

Für das Lesen ist der Perspektivwechsel je¬
denfalls eine Wohltat. Lena findet zu ihrem le¬
bendigen Stil zurück, vielleicht, weil sie daran
denkt, dass das Tagebuch einmal wirklich von
jemandem gelesen werden könnte.

Das bewahrheitete sich 1962, als Lenas Tage¬
buch von russischen Wissenschaftlern entdeckt
wurde. Nun liegt es zum ersten Mal in deutscher
Sprache vor.

Johanna Wieser

Lena Muchina: „Lenas Tagebuch“. Leningrad
1941-1942. Aus dem Russischen übersetzt und mit
Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen versehen
von Lena Gorelik und Gero Fedike. München:
Graf Verlag 2013. 374 S. Euro 18,50

Im zweiten Abschnitt werden unterschiedliche
Prozesse zwischen Minoritäten und der jewei¬
ligen Mehrheitsbevölkerung besprochen. Die
Religion, oftmals ein entscheidender Faktor,
verdient hier besondere Aufmerksamkeit. So
seien etwa Exklusivität bzw. integrative Ent¬
wicklungen innerhalb einer Gesellschaft mit¬
unter konfessionellen Handlungsvorschriften
geschuldet. Als weitere Aspekte werden Formen
der Instrumentalisierung von Minoritäten, Auf¬
stände und Repressionen, Abhängigkeiten und
Aufstiegschancen besprochen. Es gelingt den
Autoren durch die differenzierte Annäherung
an heikle Themen wie Stereotypen- und Kli¬
scheebildungen und die gut gewählten Beispiele,
wie die Funktion ausländischer Arbeitskräfte als
„Streikbrecher“, immer wieder zu verblüffen.
Einen großen Platz nimmt auch die Erörterung
von sozialer Schichtung in Zusammenhang mit
Minderheiten und deren Stabilität bzw. Potenzi¬
al für individuelle Ausbruchsmöglichkeiten ein.

Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit der
Frage nach der Entwicklung von einem relativ
friedlichen, jedoch von Ressentiments und Vor¬
urteilen geprägten Zustand einer Gesellschaft
hin zu einer explosionsartigen Auflösung solcher
Spannungen. Die Geschichte ist, so werden die
Autoren nicht müde zu behaupten, gespickt
von derlei zyklischen Schreckensszenarien. Der
kausale Zusammenhang zwischen dem aufkom¬
menden Nationalismus und Antisemitismus im
19. Jahrhundert und den beiden Weltkriegen
und dem Holocaust dient als prominentes Bei¬
spiel. Immer wieder wird die Frage behandelt,
wie der Weg zur Eskalation zu erklären ist. Wie
ist einer „sich höher schraubenden Spirale von
Gewalt und Misstrauen“ zu entkommen? Die
jüngsten konfliktreichen Entwicklungen in Eu¬
ropa („aktuelle Verschärfung der Gegensätze“)
werden vor diesem Hintergrund beleuchtet. Der

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