Mandelbaum zwei Kaffeetassen in die Hände nimmt, um sie ins
Wohnzimmer zu tragen. „Wenn ich“, sagt Mandelbaum, „zum
Beispiel von einer Kaffeetasse erzähle, zum Beispiel von dieser
Kaffeetasse hier, aber diese Tasse ist nicht hier, dann sehe ich
diese Kaffeetasse vor mir, von der ich erzähle, und Sie sehen eine
ganz andere Kaffeetasse, vielleicht eine, die Sie bei sich zu Hause
haben. Und Sie können sich nicht vorstellen, wovon ich spreche.
Aber wenn diese Kaffeetasse hier vor Ihnen steht, von der ich
spreche, dann sehen Sie, was ich sehe. Deshalb erzähle ich lieber
an Ort und Stelle. Wenn ich von meiner Arbeit im Sonderkom¬
mando spreche, dann sche ich eine ganze — Szenerie vor mir, und
wenn wir dabei bei den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau
stehen, dann verstehen Sie es besser.“ — „Aber die Gaskammern
sind heute Schutthaufen“, sage ich, „die schen nicht aus, wie die
Gaskammern, an die Sie sich erinnern.“
„Natürlich“, sagt Mandelbaum, „stehen dort heute keine Wände,
die wurden ja gesprengt. Natürlich sind heute dort keine Um¬
kleideräume, sind dort heute keine Brausen mehr, aus denen
das Gas kommt, sind dort keine Glasscheiben, durch die die
Wachleute hineinschauen können, natürlich liegen heute dort
keine Berge von Leichen, denen ich die Goldzähne herausneh¬
men muss, und die ich aufstapeln muss, wie Holzstücke, fremde
Menschen, manchmal auch Bekannte von mir, oder Verwandte,
aber wenn ich Ihnen dort in Birkenau erzähle, von meiner Arbeit,
dann haben Sie trotzdem schon eine konkretere Vorstellung von
der Szenerie, die ich vor mir sche, und meine Erinnerungen sind
nicht gesprengt, da steht alles da, wie vorher, bitte gehen wir jetzt
ins Wohnzimmer...“
Die Wohnzimmertür öffnet sich, gibt den Blick frei, auf die Wände,
die mit Regalen verschalt sind, mit Glasscheiben, hinter denen
sich unzählige Gestalten befinden. Beim Eintreten ist zu erken¬
nen, es sind Porzellanvögel, Porzellanhunde, Porzellanpüppchen,
Stoffbären, perfekt eingekleidet, Teddybären, über die ich schon
im Internet gelesen habe, dass Henryk Mandelbaum sie sammelt.
Aber da steht nichts von einer derartigen Anzahl.
Das Bett, in dem Mandelbaum nachts schläft, ist nun mit einer
Tagesdecke zugedeckt. Auf dieser liegt nicht vielleicht ein Teddybär,
vielmehr steht eine Kompanie von Teddybären darauf, symmetrisch
angeordnet, von gleicher Größe und Gestalt, in gleichem Fell,
in dieselbe Richtung blickend. Jeder Bär trägt seinerseits einen
kleinen Teddybären auf dem Arm, auf den er aufpasst.
Auf dem kleinen Couchtisch steht ein Teller mit Keksen.
Henryk Mandelbaum ist bekannt als einer der letzten Überle¬
benden des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau. Er geht
sorgsam um, mit seiner Zeit, weil er, wie er sagt, viel Arbeit hat und
die Dinge in Ordnung bringen muss, und nicht die Streitkräfte
der Alliierten vor 60 Jahren, und nicht einmal die formierte,
einsatzbereite Armee von Teddybären tagsüber auf seinem Bett
heute haben es geschafft, Mandelbaum von seinen Träumen zu
erlösen. Und nicht die Ehren, die ihm zuteil werden, nicht die
Filme, die wir über ihn drehen, nicht die Artikel, die wir über ihn
schreiben, und nicht die unfassbare Anzahl der porzellanweißen
Wesen, die an den Wände seines Wohnzimmers hinter Glasschei¬
ben herausschauen, können Mandelbaum aus dem Lager befreien.
Können aus der Gegenwärtigkeit von Auschwitz-Birkenau etwas
endgültig Vergangenes machen, das sich nicht wiederholt, in
Träumen, in Erinnerungen oder in chrgeizigen Plänen. Etwas,
das sich nicht wiederholt, weder für Mandelbaum, noch für uns,
die viel später geboren sind und selbst für die nicht, die niemals
daran denken.- Was braucht Mandelbaum?
Zuletzt sah ich Henryk Mandelbaum im Internet, wie ihn Papst
Benedikt XVI bei seinem Besuch in Auschwitz auf die Wange küsst.
2008 starb Mandelbaum.
Der Besuch bei Henryk Mandelbaum in Gliwice im Frühjahr
2005 war als Drehvorbereitung für ein Filmkapitel der „Trilogie des
Vergessens“ gedacht. Obwohl in Begleitung eines Kameramanns und
einer Aufnahmeleiterin, wollte ich dort bewusst nicht drehen, weil
ich nicht gleichzeitig jemanden filmen und mit ihm fühlen kann.
Alexander Melach arbeitet als Schrifisteller und Filmemacher in
Wien. Die fıktionale Gesellschafts-Horrorsatire „Die Pest kehrt zurück“
(Dreh Ende 2013) ist in Postproduktion. Die Langzeitdokumenta¬
tion „Trilogie des Vergessens“ (bisher 1995-99 und 2005) soll 2015
fertiggestellt sein.
ike: = iegene jüdische Dichterin Veza Canetti,
Be vevccane net (1897-1963), lebte und en
bis 1934 in diesem Haus. Sie starb in England, aus dem E
war sie nicht zurück gekehrt. Ihr literarisches Werk voll Schärfe
und Empathie wurde erst posthum veröffentlicht.
Widmungstafel fiir Veza Canetti, Wien-Leopoldstadt,
Ferdinandstraße 29. Foto: G. Moser-Wagner
Nach eingehender Vorbereitung und als Akt der Zivilgesellschaft konnte eine
Widmungstafel für die lange verschwiegene Schriftstellerin Veza Canetti
durchgesetzt werden. Sie wurde im Zusammenhang mit dem Kunstprojekt
»VEZALEBT — Veza Canetti, ein spates Jubiläum in Wien“ vom Team Gertrude
Moser-Wagner (Kiinstlerin/Initiatorin) mit Fritz Schmidmair (Architekt/Mitarbeit),
Eva Wassertheurer (Kiinstlerin/Collage des Veza-Zitats) sowie, im Vorfeld, Peter
Huemer (Briefe an Hausbesitzer) erstellt und bei der Firma Stiassny in Auftrag
gegeben. In Kooperation mit der Theodor Kramer Gesellschaft wurde die Tafel am
Schreibhaus von Veza Canetti, 1020 Wien FerdinandstraBe 29, angebracht und am
6.5. 2013 feierlich enthüllt. Die Widmungstafel wurde aus Mitteln des Nationalfonds
für die Opfer des Nationalsozialismus finanziert.Wir haben den HausbesitzerInnen
zu danken: Anna Male und Max Stockert. Mehr zum Projekt:www.taste.at/vezalebt
Die Stadt Wien stiftet übrigens seit heuer alljährlich den Veza Canetti-Preis für
hervorragende literarische Leistungen von Autorinnen in der Höhe von je
8.000 Euro. „Der Preis versteht sich als Würdigung für das bisherige Lebenswerk von
Autorinnen, die ihren Wohnsitz in Wien haben oder über ein besonderes
Naheverhältnis zur Stadt Wien verfügen.“ (wien.gv.at)