Schließlich erhielt er am 8. August 1938 einen Sichtvermerk
des tschechischen Generalkonsulats in Wien. Am 18. August
wechselte Kalmer sein Reisegeld und landete am 23. August auf
dem Prager Flughafen Ruzyni.
Konkrete Zeugnisse von Kalmers einjahrigem Prager Aufent¬
halt sind rar. Das Wenige, das wir bis zu seiner Emigration nach
England wissen, ist, dass er in der Neustadt einen Wohnsitz in
der Ve Smeckäch 29 hatte. Neben den eingangs erwähnten, nicht
näher zu bestimmenden Spanisch-Lektionen arbeitete er an dem
erst 1947 in London erschienenen Buch „Warrior of God“, einer
Jan Hus-Biographie, die er gemeinsam mit dem Philosophen Paul
Roubiczek (1898 — 1972) verfasste.'* Der gebürtige Tscheche
Roubiczek war nach Aufenthalten in Berlin und Paris 1935 nach
Wien gekommen, wo er in den Verlagen Rolf Passer und Zeit¬
bild tätig war — jenen Publikationsorten, die Kalmers letzte drei
Übersetzungen vor der Emigration veröffentlichten." Es ist also
zu vermuten, dass sich die beiden in Wien kennengelernt hatten
und hier bereits mit dem Hus-Buch beschäftigt waren. Nach dem
Einmarsch Hitlers im März 1938 flüchtete Roubiczek mit seiner
Frau Hermine nach Prag und blieb bis Anfang Juni 1939 dort, che
ihm die Weiteremigration nach Großbritannien gelang. Kalmer
und Roubiczek hatten in der Tschechoslowakei demnach maximal
zehn gemeinsame Monate, um „Ihe Life and the Death of John
Hus“ zu erarbeiten.”° Während Roubiczek mit Unterstützung von
Hilde Spiel, mit deren damaligem Ehemann Peter de Mendels¬
sohn er in Paris den Verlag des Europäischen Merkur gründete,
in Cambridge zunächst als Landarbeiter sein Auslangen finden
musste (und erst später an der Universität Cambridge Deutsch
und Philosophie unterrichten konnte)”, war Kalmer in Prag noch
mit der Vorbereitung seiner Emigration beschäftigt.
Eine Nebenrolle bei diesen Ausreiseanstrengungen spielte Wil¬
helm Sternfeld, der spätere Mitherausgeber des Standardwerks
„Deutsche Exil-Literatur 1933-1945“. Er war seit 1938 Sekretär
der Thomas-Mann-Gesellschaft in Prag, die sich um Exilschrift¬
steller und -journalisten kümmerte, und hatte Kalmer offenbar
Anfang 1939 empfohlen, sich an Rudolf Olden in England zu
wenden. Den in Sachen Flüchtlingsrettung sehr engagierten Se¬
kretär des deutschen PE.N.-Clubs im Londoner Exil bat Kalmer
dann am 14. Jänner 1939, ihm eine Aufenthaltsgenehmigung
für England zu verschaffen, denn: „Jetzt ist die Situation hier
so geworden, daß ich meine Auslieferung befürchte, wenn ich
länger als bis zum Monatsende hier bleiben muß.“”” Und weiter:
„Die größte Komplikation für mich beruht hier darauf, daß ich
kein Sozialdemokrat bin. Diese sind die einzigen, die effektiv
und mit Erfolg etwas für das Hinausbringen ihrer Leute tun,
alles andere ist eine Angelegenheit von Protektion, die ich nicht
habe.“ Warum Kalmer hier behauptete, kein Sozialdemokrat zu
sein, obwohl er bei passenden Gelegenheiten gern darauf verwies,
seit 1920 Parteimitglied zu sein”, könnte daran liegen, dass er
— soweit ersichtlich — nie im engeren Sinne parteipolitisch aktiv
war, sodass eine nur pro forma behauptete Zugehörigkeit allein
nicht weitergeholfen hätte.
Wichtiger Helfer im Emigrationsprozess war sein jüngerer Bru¬
der Fritz, der vermutlich seit Juni 1938 in Großbritannien lebte
und sich in London um ein britisches Visum für den Älteren
bemühte. Währenddessen bereitete Joseph die nötigen Papiere
in Prag vor. Im Jänner 1939 erhielt er einen tschechischen Pass
mit einer einjährigen Gültigkeitsbeschränkung, Ende des Monats
das notwendige Gesundheitszeugnis. Dass er schnellstmöglich aus
Prag wegkommen müsse, ließ er im Februar wiederum Rudolf
Olden wissen, dem er seine Personaldaten und bereits vorgefer¬
tigte Zeilen über seine akut bedrohte Lage mit dem Vermerk
„Zu eventuellem Ausschneiden“ zukommen ließ: „As the Czech
Government threatened not to take any responsibility for refu¬
gees after end of January, he [Kalmer; T.G.] is in an imminent
danger to fall into German hands again which would mean the
concentration camp.“ Weiterhin hoffte Kalmer, dass ihm Olden
weiterhelfen könnte: „Hier sagte mir Miss Warriner, die offenbar
die Oberleitung der Transporte von Flüchtlingen nach England
hat, daß mich eine englische Organisation (Pen Club, National
Union of Journalists u. ähnl.) als gefährdet bezeichnen und für
mich beim Home Office intervenieren muß, damit der Konsul
hier die Weisung bekomme, mir ein Visum zu geben. Wenn Sie
in dieser Richtung etwas Energisches unternehmen könnten, das
schnell zum Ziele führt, so wäre mir damit geholfen. Ich muß
ernstlich fürchten, daß sonst keine Möglichkeit, zu „reisen“ für
mich mehr bestehen wird. (Ich vergaß oben anzuführen, daß
ich Jude bin.)“*4
Doreen Warriner war eine junge Englanderin, die sich seit Ok¬
tober 1938 um Ausreiseméglichkeiten fiir Verfolgte des Hitler¬
Regimes, insbesondere politische Flüchtlinge, bemühte. Bis April
1939 war sie Mitglied des British Committee in Prag.”
Während Olden offenbar nichts für Kalmer bewirken konnte,
war neben dem Bruder und Doreen Warriner für die Einrei¬
semöglichkeit nach Großbritannien der Wiener Zeichner und
Journalist Fritz Josefovics (später: Frederick Joss) mitentscheidend,
dem Kalmer um 1927 durch einen Presseausweis eine ermafigte
Schiffkarte nach Brasilien ermöglicht hatte und der nun in London
bei der Zeitung „Star“ arbeitete. Über Warriner und Joss schrieb
Kalmer 1946 im „Zeitspiegel“: „Im Alcron-Hotel [in Prag, T.G.]
gab es eine Miss Warriner vom News Chronicle. Ich ging zu ihr,
sagte[,] ich sei Journalist und käme sicher nach Dachau, wenn
die Nazis mich erwischten. Sie fragte nicht viel nach dem War¬
um, sondern gab mir sechs Adressen in London. [...] Die erste
Adresse war Frederick Joss’. [...] Das muss so ums Ende März
1939 gewesen sein. Und am 28. April 1939 kam ein Telegramm
von Joss, dass mir die Einreise nach England bewilligt worden
sei.“”° Dass Frederick Joss ihm durch seine Bürgschaft „das Leben
gerettet“ hatte, hielt Kalmer auch später fest.”
Im März und April 1939 wurde Kalmers Flüchtlingsstatus be¬
stätigt, am 28. April erhielt er das Visum für Großbritannien, am
nächsten Tag meldete er sich bei der Zollbehörde. Diese ersten
Auswanderungspläne nach Großbritannien sahen offenbar den
Weg über Polen vor, denn am 4. Mai 1939 erhielt er vom polni¬
schen Generalkonsulat in Prag ein polnisches Durchgangsvisum,
das ihm den Aufenthalt in Polen für 36 Stunden gewährte. Das
polnische Visum deutet daraufhin, dass Kalmer vom britischen
Hilfswerk unterstützt wurde, das unter polnischer Billigung Flücht¬
lingstransporte meist über den Ostsechafen von Gdingen nach
Großbritannien führte.”®
Doch nach diesen Vorbereitungen geriet die Planung offenbar
ins Stocken. Erst Anfang August wurde Kalmers steuerliche Un¬
bedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt und seine Meldung in
Prag „zwecks Auswanderung“ bestätigt. Am 1. August reichte
er das Umzugsverzeichnis mit 30 Büchern ein, das zehn Tage
später genehmigt wurde. Während also für Kalmer nun alles
für die Ausreise nach England bereit war, verständigte ihn das
amerikanische Konsulat in Prag am 17. August, dass sein Platz
in der Warteliste erreicht sei und er am 6. September sein Gesuch
einreichen solle.” Dass die Lage zu ernst und der 6. September