Ludvik Kundera, der bescheidene Wort- und Bildkünstler, hätte
nicht sterben dürfen. Ihm, dem emphatischen Vermittler zwi¬
schen den Kulturen sondergleichen, dem Übersetzer von Brecht,
Büchner, Rilke, Kunze, Trakl, Celan, Benn, Morgenstern, Kirsten
und noch vieler anderer, hätte ich gerne noch einmal zugehört.
Diese Generation tschechischer Dichter lebte im Widerstreit
mit den ofliziellen Ideen, publizierte zumeist im Samisdat, in
der Edice Petlice. Poesie als Gegenentwurf zu einer kratzbürsti¬
gen Wirklichkeit, einer politischen Realität, die der Poesie meist
nicht gut gesinnt war. Ihre ersten Verse komponierten sie noch
unter dem Eindruck von Geschichten und Anekdoten über Andre
Breton, der in den dreißiger Jahren in Brünn und Prag Vorträge
über den Surrealismus gehalten hatte vor überfüllten Sälen (das
in Prag lebende Künstlerpaar Toyen und Jindfich Styrsky hatte
vermittelt).
Sie glaubten an die Internationale der Poesie. Und so fuhr auch
Kundera mit Freunden einmal, trotz Schneesturm, zu Peter Hu¬
chel, vorbei an Autos, die in Straßengräben lagen, die Räder nach
oben.
Sie bewahrten, mal zornig, mal gleichmütig, das Fämmchen
der Poesie, auch unter Gottwalds Stalinismus und Demütigungen,
für die die sowjetischen Panzer auf dem Wenzelsplatz, die brachi¬
al den Prager Frühling niederwalzten, einen traumatisierenden
Höhepunkt darstellten.
Ivan Divis hielt all dies nicht aus, auch nicht Ivan Blatny, einer
meiner Liebsten. Und Miroslav Holub entwickelte in diesem Labor
der politischen und künstlerischen Experimente eine Dichtung,
die wesentlich von seinem Brotberuf in der Immunologischen
Abteilung des Instituts für Mikrobiologie an der tschechoslowaki¬
schen Akademie der Wissenschaften geprägt war. Und er wusste:
Kaum die Insekten, vielleicht die Bakterien und Viren, hatten je
so viel Macht wie in diesem Jahrhundert die Menschen.
Für Ludvik Kundera war der Mensch ein Cadavre exquis, je
nachdem, wer an ihm zeichnete, gestaltete sich auch das Bild
des Menschen.
Ein Kunststück unter diesen Bedingungen: fröhlich zu sein
und noch keine Leiche.
Zum westböhmischen Schriftstellertreffen im November des
Jahres 1997 in Pilsen war ich von Prag mit dem Zug angereist.
In diesen Jahren weilte ich öfter in Prag als in Wien. Nahe der
Bahnlinie Linz — Budweis wohnend, lag es auf der Hand, diese
auch zu frequentieren. Kaufte man nach dem Grenzübertritt
die Fahrkarte beim Schaffner, war die Fahrt auch relativ günstig.
Und in Zdenéks Atelier war immer eine Couch für mich frei...
Zum Treffen eingeladen hatte mich mein Freund und der Uber¬
setzer meiner Gedichte ins Tschechische, Josef Hruby. So lernte
ich glücklicherweise den mährischen Dichter Josef Suchy, dessen
Gedichte mir Jahre zuvor in der Anthologie tschechischer Dichter
„Der Lerchenturm“ aufgefallen waren, persönlich kennen. Vor
meiner Abreise ergab sich noch im Hotel ein längeres Gespräch.
Nicht zufällig. Wir hatten einander einiges zu sagen.
Er kam mir vor wie ein letzter Heiliger, oder zumindest wie ein
buddhistischer Mönch, der in seiner Sanftheit niemandem, nicht
einmal der sprichwörtlichen Fliege etwas zuleide tun konnte.
Wir tauschten Bücher aus, in seinem zu dieser Zeit aktuellsten
Gedichteband 1v4 v tud? (Von Angesicht zu Angesicht) schrieb er
mir eine Widmung, die mich durchaus freute: „Für Herrn Richard
Wall, / Freund der tschechischen Kultur, / herzlich gewidmet /
in Pilsen/ 4. 11. 1997 / Josef Suchy“.
Er erzählte mir, dass er wegen einer Gehirnblutung schon zwei
Monate im Krankenhaus gelegen sei und nun Gedichte in einer
für ihn vollkommen neuen Form schreibe.
In seinem Kopf habe er einen ganzen Parnass von Dichterkol¬
legen, angefangen von Johannes Bobrowski (auf den wir am Tag
zuvor zu sprechen gekommen waren) bis zu Ludvik Kundera
und Ivan Blatny.
Er habe einen stattlichen Band Gedichte, die von verschiede¬
nen, vor allem von Schweizer Kollegen ins Deutsche übertragen
wurden, zur Veröffentlichung vorbereitet. Er hoffe, dass Herr
Vogel aus Pulkau demnächst in der Edition Atelier seinen Band
in Druck geben könne. Nicht „werde“, sagte er, sondern „könne“,
eine Formulierung, die, ohne nachzufragen, mir sagte, dass es bei
der Finanzierung des Buches haperte. (Tatsächlich erschien die
Gedichtesammlung mit dem Titel Zeitstaub erst nach Suchys
Tod im Jahre 2003. Mit dem „Herrn Vogel“ war der 1922 in
Wien-Favoriten geborene, 2005 in Pulkau verstorbene Lyriker,
Romancier und Herausgeber Alois Vogel gemeint, der auch, zu¬
sammen mit Zdenek Kozmin, die bereits genannte Sammlung
Der Lerchenturm in der Edition Atelier herausgeben hatte.)
Um das Gesagte zu unterstreichen gewährte er mir Einblick
in das von ihm vorbereitete Konvolut: Eine dicke Mappe mit
Gedichten auf unterschiedlichsten Papieren, zum Teil geschrieben
mit der Schreibmaschine, zum Teil Kopien, typographisch unter¬
schiedlich, aus Anthologien und Zeitschriften, so beispielweise aus
der längst nicht mehr existierenden Schweizer Zeitung Die Tat.
Seine hellblauen Augen waren von einer seltenen Klarheit und
Sanftheit. Er sprach ein formidables Deutsch, wenn auch langsam.
Bedächtig waren auch alle seine Bewegungen. Er hatte auffallend
große Hände, die mir geschwollen vorkamen (vielleicht wegen der
Medikamente, die er einzunehmen hatte), aber dünne Beine; seine
hohe und breite Stirn begrenzte ein grauer, breitkrempiger Hut,
der ihm möglicherweise eine Nummer zu klein war. Tags zuvor,
während eines Rundgangs durch die Innenstadt - ein deutscher
Professor hatte angeboten, die Teilnehmer des Treffens zu den
sogenannten Deutschen Stätten zu führen -, fegte ein Windstoß
seine Kopfbedeckung zwischen zwei geparkte Autos auf den Boden,
wo der Hut, wie ein graues Rad dahinrollend, für eine kurze Zeit
unter der Bodenplatte eines Autos verschwunden war.
Sein Gepäck bestand aus zwei Aktentaschen, einer schwarzen,
die vor allem mit Medikamenten gefüllt war, und einer braunen,
in der er Bücher und seine Manuskripte aufbewahrte.
Wenn er, in jeder Hand eine Tasche, leicht nach vorne gebeugt,
mit seinem Profil, das wesentlich von einem nicht gerade be¬
scheidenen Gesichtserker charakterisiert wurde, so dahinschritt,
hätte er für einen Karikaturisten ein durchaus inspirierendes Sujet
abgegeben: Er erinnerte mich an Karel Teige, so wie sein Ausse¬
hen auf Zeichnungen und Fotos überliefert ist, auch ein wenig
an Franz Werfel, vielleicht wegen der fleischigen Lippen, und
wenn er ging, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, auch
an Jaques Tati (vielleicht erlebte er auch das Leben als ein Gehen
im Gegenwind).
Einige Zeit später, nachdem wir uns schon verabschiedet hatten,
sahen wir uns am Bahnhof zum letzten Mal. Er fuhr über Prag
nach Brünn, ich über Budweis ins Mühlviertel zurück. Mit den
Ceske drähy: Ahoj a vsechno nejlepsi!