Aus allen Umfragen geht hervor, daß die meisten Menschen ein
unstillbares Bedürfnis hegen, ein eigenes Heim im Grünen zu
besitzen. Das unaufhörliche und massenhafte Streben nach ei¬
nem Leben in heiler Umgebung gefährdet, wie uns Städteplaner
vorrechnen, das ökologische Gleichgewicht, das es mit Passivhäu¬
sern und günstigen Wohnbaukrediten zu erreichen träumt. Die
einfachen Bewohner der großen städtischen Ballungen führen im
Vergleich dazu ein aus ökologischer Sicht nahezu musterhaftes
Leben. Wenn sie heizen, profitieren auch die Nachbarn von der
Abwärme, und viele ihrer alltäglichen Wege legen sie zu Fuß oder
mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Man könnte sagen: Die
Städter subventionieren die Siedler.
Die „Siedlergesellschaft“, die sich in den Peripherien der großen
Verwaltungs- und Produktionszentren formiert hat, bringt auch
ihre eigene Kultur der unablässigen Garten- und Rasenpflege und
der Anpassung an vermeintlich ländliche Gebräuche hervor, eine
Kultur, die- abgesehen von folkloristischen Uberbleibseln — selbst
mehr ein Produkt wechselseitiger Anpassung ist als irgendeiner
erkennbaren Tradition. Als meine sozialdemokratische Mutter sich
ein Wochenendhäuschen im Tiroler Mittelgebirge einrichtete, hing
da mit einem Mal ein Gekreuzigter an der Fichtenholztäfelung. In
der Stadtwohnung unserer Familie ward dergleichen nie gesehen.
Aber wiinschte nicht sogar ein Friedrich Engels einst, ange¬
sichts der im damaligen London bestehenden Ubel, die großen
Städte sollten wieder verschwinden und modernen Gartenstäd¬
ten weichen, wo dann die menschlichen Ausscheidungen statt
Krankheiten zu verursachen zur Fertilität der Böden beitrügen?
Engels war sicher beeinflußt von den Gedanken englischer Sozi¬
alreformer seiner Zeit, aufgegriffen auch von den Initiatoren der
Werkbundsiedlung im Wien der Zwischenkriegszeit. Doch schon
der Austrofaschismus erkannte die domestizierende Wirkung des
Eigenheims, wobei es freilich — wie in anderen Belangen auch —
bei den schönen Absichten blieb. Das naturwüchsig anmutende
Bedürfnis nach dem eigenen Haus hat, wie angedeutet, also eine
Geschichte, von der der junge Polizist, der mir vor Jahren beschämt
gestand, noch auf Miete zu wohnen und den Hausbau erst zu
planen, vermutlich keine Ahnung hatte.
Auch das Verschwinden der Arbeiterkultur im Bewußtsein und
Handeln der meisten Menschen, ihre Schrumpfung auf einen
kleinen Kreis Beteiligter und ihre Erstarrung in beschränkten
Inhalten haben eine Vorgeschichte. In der Regel erklärt man sich
das Phänomen einerseits aus dem sozialen Wandel, der sich in
dem abgegriffenen Bonmot resümieren läßt, der heutige Arbeiter
wolle alles andere als ein Proletarier sein. Andererseits deutet das
von dem Korporativisten Robert Michels aufgestellte „Eherne
Gesetz der Oligarchie“ auf Strukturen in den Massenparteien
hin, die einer lebendigen und demokratischen (und damit auch
Einfluß heischenden) kulturellen Betätigung der „Basis“ nicht
günstig scheinen.
Wenn von der Zerstörung der Arbeiterkultur durch Faschismus
und Nationalsozialismus gesprochen wird, ist dies also ein wenig
irritierend. Als zerstört wird zum einen behauptet, was von man¬
chen und nicht den Schlechtesten nach wie vor bewahrt wird,
einem Herdfeuer gleich, das nie ausgehen darf. Zum anderen
hat sich die offizielle Gedenkkultur in den letzten Jahren fast
ausschließlich auf die ungeheuren Verbrechen unter dem Regime
des Nationalsozialismus bezogen. Doch das, was der Arbeiterbe¬
wegung und ihrer Kultur widerfuhr, hat ebenfalls schwerwiegende
Auswirkungen für die Gegenwart.
Die Verfolgung von Jüdinnen und Juden und die Verfolgung und
Ermordung von linksgerichteten ProtagonistInnen der Arbeiter¬
kultur überschneiden sich indes in Österreich in vielen Fällen,
man denke nur an Adolf Unger, Richard Wagner, Jura Soyfer,
Otto Felix Kanitz, Else Feldmann, Adele Jellinek, Käthe Leichter,
Heinrich Steinitz. Und an die vielen, die flüchten konnten und
nicht mehr zurückgekehrt sind. Allein diese menschlichen Ver¬
luste trugen schon wesentlich zur Zerstörung bei. Denn anders
als jene Siedlerkultur, die nahezu naturwüchsig aus überdüngter
Erde sprießt, bedurfte Arbeiterkultur stets bewußter Anstren¬
gung der Beteiligten, bedurfte des feierlichen Bekenntnisses zu
gemeinsamen Zielen am 1. Mai (welchen eine österreichische
Ministerin kürzlich in „Familientag“ umzufunktionieren vor¬
schlug), bedurfte einer Tagespresse und ungezählter Publikationen
und Vorträge, um sich des immer drohenden Abdriftens hin zu
den die Epoche unheilvoll prägenden Ideologemen zu erwehren.
Und war dennoch nicht frei von Ideen zur Eugenik, zum von
Richard Wagner inszenierten Gesamtkunstwerk, vom Jugendkult
der Wandervogel-Bewegung, von rassistischen Vorurteilen, vom
Kult des Massenspiels und dessen Ambivalenzen.
Die Zerstörung kam nicht nur ‚von außen‘, sondern hatte auch
innere Ursachen, die erörtert werden müssen. Es geht darum, „Ge¬
schichte zu lernen“, und das bedeutet zuerst einmal die erlittenen
Niederlagen zu studieren. Denn auch dann, wenn alle Schuld bei
den Faschisten und Nationalsozialisten gelegen sein mag, ist die
Niederlage dadurch nicht ungeschehen. Es gilt also, mit Respekt,
mit Heiterkeit und Trauer an die Sache heranzugehen.
Konstantin Kaiser
Theodor Kramer Preis 2014
Die Beiträge von Harry Kuhner, Karl Müller, Erwin Pröll und
Vladimir Vertlib zum Theodor Kramer Preis für Schreiben im
Widerstand und im Exil 2014 werden in ZW Nr. 1/2015 (vor¬
aussichtlich im März) erscheinen. Platzmangel in vorliegendem
Heft ist der Grund. Wir bitten um Geduld und Nachsicht.
Auszeichnung für Margit Bartfeld-Feller
Am 22. September 2014 war der österreichische Botschafter in
Israel, Franz Josef Kuglitsch, zu Besuch bei Margit Bartfeld-Feller
am Nordau-Boulevard in Tel Aviv. Er überbrachte ein Österreichi¬
sches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Wir gratulieren!