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bei welchem die Wiener Polizei mehr als neunzig Demonstranten niederschoß. Als es danach im Parlament wegen der folgenden Strafprozesse zu einer erregten Debatte zwischen Otto Bauer und dem Prälaten Dr. Seipel kam, bei der der katholische Würdenträger „Keine Milde!“ rief, kam es zu einem Massenaustritt aus der katholischen Kirche. Nach dieser Schilderung bekommt man eine Vorstellung von der Wirkung der sozialdemokratischen Bildungstätigkeit. Sie ging in die Breite, aber auch in die Tiefe des Einzelnen. Die Ausdehnung fand ihre Grenzen allerdings dort, wo es keine organisierten Sozialdemokraten gab. Das „Rote Wien“ hatte die Vormachtstellung, aber auch die Arbeiter der steirischen Eisenindustrie waren „durchorganisiert“, so wie jene der Städte Steyr oder Linz und einiger anderer Gebiete. Sie alle waren Enklaven, die sich deutlich vom agrarischen Österreich absetzten und geistig mit ihrem Austromarxismus in unversöhnlichem Gegensatz zu den katholisch gesinnten Bürgern und Bauern standen. Im Gegensatz zu diesen empfanden die österreichischen Sozialdemokraten mehr Solidarität für Gesinnungsgenossen im Ausland als für andersgesinnte Österreicher. Eine „Heimat Österreich“ - in welchem Sinn auch immer — gab es in der Sozialdemokratischen Partei kaum. Das machte die sozialdemokratische Kultur, so wertvoll sie sich im Ganzen darstellt, zu einer Subkultur. Eine Subkultur, welche auch schwerwiegende negative Seiten aufwies. Geistige Selbstgenügsamkeit führte dazu, daß man nicht bereit war, andere Ideen auch nur einigermaßen kennenzulernen, mit einem Andersgesinnten zu verkehren. Ein „Roter“ verkehrte mit keinem „Schwarzen“, aber auch kein „Schwarzer“ mit einem „Roten“. Erst in den Konzentrationslagern Hitlers kamen die schwarzen und roten Gegner des Nationalsozialismus einander näher. Leopold Figl konnte durch seinen Aufenthalt in zwei Konzentrationslagern Sozialdemokraten und Kommunisten menschlich nahekommen, und seine sozialistischen und kommunistischen Lagergenossen haben von ihm stets mit Achtung, ja Liebe gesprochen. Aber das war eher ein Einzelfall. Er hat sich freilich für das Österreich nach dem Krieg segensreich ausgewirkt. Die Kluft zwischen „Schwarz“ und „Rot“ hielt in Österreich noch lange an. Das Streben, sie zu überbrücken, kam von katholischer Seite: Der Publizist Friedrich Heer war unermüdlich im Mahnen zu Gesprächen über den Graben hinweg. Und ganz verschwunden ist diese Kluft auch heute noch nicht. Die Bildungsorganisation der Sozialistischen Partei hat es nach dem Krieg leider verabsäumt, ihre Mitglieder mit den Grundsätzen der Demokratie vertraut zu machen. Schon 1933 wurde Österreich ohne Parlament regiert. Die demokratische Periode der Ersten Republik hatte nur fünfzehn Jahre gedauert. Und wenn man Österreich unter Hitler gleichsetzen kann und darf, so ist es doch vor Hitler kein demokratischer Staat gewesen. Viele Beispiele ließen sich dafür anführen, wie oberflächlich und konfus die Vorstellungen über Demokratie bei den Österreichern nach dem Ende der Hitlerherrschaft gewesen sind — auch bei solchen, welche politische Verantwortung trugen. Woher hätte ihnen auch das Wissen kommen sollen? Es ist meine feste Überzeugung, daß die Bildungsorganisation der Sozialistischen (sozialdemokratischen) Partei mit dem Unterlassen, Wissensvermittlung und Studiengemeinschaften mit dem Ihema „Demokratie“ in ihr Programm aufzunehmen, einen schweren Fehler begangen hat. Manche Ereignisse, die später der Partei so schr geschadet haben, hätten sich vermeiden lassen, wären ihre Akteure besser oder überhaupt über das Wesen der Demokratie aufgeklärt worden. Mit solchen Gedanken fällt man in Österreich unangenehm auf, falls man überhaupt verstanden wird. Jeder Hinweis auf England oder die Vereinigten Staaten wird sofort mit der Aufzählung von „Gegenargumenten“, wie Imperialismus, Kolonien, Negersklaven, Korruption u.ä. schroffabgewiesen und als „Anhimmelung“ jener Staaten abgelehnt. Denn wir haben ja alles, was wir brauchen! Vergeblich die Versicherung: Gewiß, all das gibt es in England und den USA auch, aber diese Länder haben etwas, das wir nicht haben; eine lebendige Demokratie. Erst im Juli dieses Jahres wurde in Österreich der Entwurf einer Novelle zu einem Punkt des Verfassungsgerichtshofs-Gesetzes erarbeitet, nach welchem es einem Verfassungsrichter möglich sein soll, seine abweichende Meinung von einem Beschluß seines Gerichtes festzuhalten, und daß dieses Sondervotum der schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses anzuschließen sei, zur eventuellen Wahrung von gewichtigen Argumenten der Minderheit. In der BRD hat man diese „dissenting opinion“ („abweichende Meinung“) von den USA übernommen. Din Einrichtung hat sich bewährt. Wir hinken nach. Wer den Fernsehfilm „Gleichheit kennt keine Farbe“ (mit Sidney Poitier) geschen hat, versteht, worum es sich handelt. In der Szene, in welcher der Oberste Gerichtshof in Washington darüber berät, ob es der Verfassung entspricht, daß weiße und schwarze Kinder getrennte Grundschulen besuchen müssen, schen und hören wir auch einen Richter mit seiner „dissenting opinion“. Wieviele Österreicher interessiert so etwas? Die Leiterin einer Wiener städtischen Bücherei erzählte mir, daß Engländer und Amerikaner ihre Bibliothek aufsuchten und die Verfassung Österreichs verlangten. „Ich weiß sehr wohl, daß in ihren Ländern November 2014 35