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Blättern publiziert, sowie Märchen, Possen und Dramen. Heitere Ehegeschichten und Lebensweisheiten wechseln sich in ihrem Werk ab mit seitenlangen Balladen. Oft vermischen sich die Genres. Markant ist ihre Abneigung gegen den technischen Fortschritt sowie Waffenlieferanten und Kriegsprofiteure, die aus dem Leid und der Zerstörung ihr Kapital schlagen. Sie verarbeitet dies in verschiedensten Stücken — zum Beispiel in dem Gedicht „Kriegsgewinner“ (1924). Es beschreibt Generationen solcher „Kriegslieferanten“, die die Weltkriege mehr oder minder verschrt überstehen und jedes Mal reicher daraus hervorgehen. Das Ende lautet folgendermaßen: Solange Kriegsgewinner leben Wird es auf Erden Kriege geben. Erst wenn der letzte stirbt hienieden, Dann hat die Menschheit ihren Frieden. (Aus: „Kriegsgewinner“, 1924) Nach dem Ersten Weltkrieg tritt Lotte Pirker der Sozialdemokratischen Partei bei. Bis zu den Februarkämpfen 1934 bekleidet sie ehrenamtlich das Amt der Bezirksrätin in Wien-Hietzing. Sie verschreibt sich besonders der literarischen Volksbildung und der Förderung junger Künstler. Vor den einfachen Leuten hält sie Vorträge, zumeist über ihre Reisen, die sie in regelmäßigen Abständen unternimmt. Die Affinität zum öffentlichen Reden ist vielleicht ein Relikt aus den Debattierklubs ihrer Jugendzeit, sie tritt ausgesprochen gern vors Publikum. Wenn sie von fernen Ländern und Kulturen berichtet, versucht sie ihre Zuhörer durch bildhafte Beschreibungen in ihren Bann zu ziehen. Doch nicht alle waren angetan von Lotte Pirkers enttabuisierten Vorträgen. Einem Artikel vom 4. Jänner 1928 im Vorarlberger Volksblatt ist zu entnehmen, dass man im äußersten Westen Österreichs — wohl nach einem Referat über die japanische Kultur — daran dachte, das Publikum künftig „vor dem Besuch derartiger Veranstaltungen öffentlich warnen zu müssen“. Die Vortragende hätte „die Anstoß erregenden Stellen auslassen“ und ihre „Bildungsarbeit auch dem Volkscharakter“ des Bundeslandes anpassen sollen, heißt es in der Vorarlberger Zeitung. Aus heutiger Perspektive muss insbesondere ihre Analyse afrikanischer Stammesfrauen kritisch betrachtet werden, die sie mehrmals darbietet — Kindern und Jugendlichen bleibt der Zutritt zur Veranstaltung verwehrt. Im Lichtbildvortrag „Unsere dunkelhäutigen Schwestern in Afrika“ aus den frühen dreißiger Jahren beschreibt sie minutiös Erscheinungsbild, Gebaren und Eigentümlichkeiten afrikanischer Frauen. Dabei typologisiert sie diese — ein wissenschaftliches Phänomen der Zeit. Uber Venedig und Siiditalien war Lotte Pirker 1930 zusammen mit einer Konzertpianistin gen Süden gelangt. Blättert man in ihrem Reisetagebuch mit dem Titel „Zwei Wienerinnen in Afrika“, wird klar: Weiter als nach Tunis und Tripolis an der Nordküste ist sie nicht ins Innere des Kontinents vorgedrungen. Dabei stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage sie die Ethnien derart detailliert beschreibt, und ob es sich nicht vielmehr um die Wiedergabe von Klischees und phantasievollen Interpretationen handelt. Dadurch bleibt sie den Rassentheorien der Jahrhundertwende und deren Terminologie verhaftet, in denen „Hottentotten“ als Wilde gelten, „Eskimos“ wie Zootiere ausgestellt werden. Auch Lotte Pirker betont in ihrem Bericht die Andersartigkeit der Naturvölker, der „fettleibigen Weiber“ mit entstellten Schamlippen und ihrer „Negerkinder“. Dies irritiert. Dennoch müssen ihre zahlreichen Reisevorträge und Rezitationen als Mittel der Völkerverständigung geschen werden, als Versuch, die Hürden zwischen den verschiedenen Kulturkreisen abzubauen. 1997 wird Lotte Pirker in der Reihe „Vergessene Autoren der Moderne“, herausgegeben von der Universität Siegen, in der 68. Ausgabe der Serie ein Nachdruck eines ihrer Werke gewidmet: „Das geraubte Ich und andere Grotesken“, ein ursprünglich 1925 im Bugra-Verlag erschienener Kurzgeschichtenband. Es sind Parabeln und Persiflagen, durchtrankt von Zeit- und Kriegskritik. Geschichten des kleinen Mannes und der hauptstadtischen Stimmungslage der Zwischenkriegsjahre reihen sich aneinander — Bilder also, die Lotte Pirker wachen Auges nachzeichnet und ins Absurde steigert. Im militarbegeisterten und waffenbesessenen Grundkonsens der Zeit drücken sich ihre pazifistische Überzeugung und ihre Kritik am Kapitalismus vor allem durch zynische Pointen aus. Die Ironie muss als eine Art Flucht verstanden werden: als Ausdruck der Resignation vor dem Zeitgeist. Ihr Stil zeichnet sich auch durch den fortwährenden Dialog mit dem Leser aus. Immer wieder wendet sich Lotte Pirker direkt an ihr Publikum, interagiert mit ihm, fragt, antwortet - und lässt es dann vor den Kopf gestoßen zurück. Der Humor ist rabenschwarz, bitterböse Pointen runden die Grotesken ab. Die Enden sind schroff, oft drastisch, die Protagonisten fratzenhaft tiberzeichnet. Dies kontrastiert die eher einfach gehaltenen Handlungsstränge, so manches Zwiegespräch findet im Wiener Dialekt statt. Dabei sind diese tiefgründigen Geschichten häufig aus der Froschperspektive erzählt: Gespräche zwischen einem Telegraphendraht, einer Sardinenbüchse und einer Puderdose oder die Memoiren einer Bettwanze sind Zeugnis einer Liebe zum Detail, zu den kleinen, unscheinbaren Beobachtungen. Überhaupt wirken die Erzählungen oft drehbuchhaft, Pirkers Nähe zum szenischen Schreiben ist immer wieder spürbar. Neben all den bizarren Schilderungen und der stets inhärenten Gesellschaftskritik werden auch intime Gedankengänge erkennbar und stimmen den Leser nachdenklich. Obgleich fiktionalen Protagonisten in den Mund gelegt, klingen sie wie eigene Reflexionen. Mein Ich, wer gibt mir mein Ich wieder? Man hat mir mein Ich geraubt. Bin ich nicht mehr ich? .... Ja, wer aber bin ich dann? Wer? Wer? Soll ich ichlos den Rest meiner Tage vertrauern? Oder bin ich ich? Bin ich es noch oder bin ich es wieder? O, wer löst mir dieses furchtbare Ratsel? Wer ? ? ? (Aus: „Das geraubte Ich“, Das geraubte Ich und andere Grotesken, 1925, S. 11) 1933 wird die „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“ gegründet. Im Vereinsstatut heißt es, man versammle sich auf Basis einer gemeinsamen sozialistischen Weltanschauung „zur geistigen und materiellen Förderung (schriftstellerischer) Arbeit“. Die Unterstützung der von den Nationalsozialisten verfolgten Autoren gilt dabei als essentiell. Lotte Pirker tritt bei, es werden regelmäßig Lesungen und Dichterabende veranstaltet. Zusammen mit anderen Schriftstellern leistet sie Aufklärungsarbeit zu den NS-Bücherverbrennungen. Auch an Autorenabenden der Künstlervereinigung „Der Turm“ wirkt sie mit. Einen ihrer größten Erfolge erreicht sie noch im Jahr 1934 mit der Adaption des „Struwwelpeter“ für die Theaterbühne. Das Stück wird nicht nur im Wiener Variete Leicht und in der Urania, sondern auch landesweit aufgeführt. Besonders Wien und seinen Bewohnern und Jahreszeiten widmet November 2014 59