In der feinen und genauen Erzählung vom „Fräulein Emma“
hat Renate Welsh-Rabady auch eine Parabel auf die Nachkriegs¬
jahre entworfen. Emma, eine alleinstehende Frau, hatte eine in
„geschützter Mischehe“ Nicht-Deportierte vor dem Verhungern
bewahrt und nimmt sich nun, 1945, des behinderten Kindes
eines im Krieg verschollenen Nazis an. Dieses Kind erlebt damit
tatsächlich eine Befreiung. Sein Schicksal wäre unter fortgesetzter
NS-Herrschaft ein tragisches gewesen; nun tollt es fröhlich mit
den anderen Kindern des halbzerstörten Hauses im Schutt. Doch
der Nazi-Vater kehrt zurück, tritt in seine alten Rechte ein und
kümmert sich jetzt auf seine Art um das Kind, das man nie mehr
lachen, nur mehr weinen hört. Und Fräulein Emma, die auf ihre
stille Weise Widerstand geleistet hat, verschwindet aus dem Ge¬
sichtskreis. Sie ist eines Tages weggezogen, niemand weiß wohin.
Eine Zeitschrift wie „Zwischenwelt“ kann und soll keinen ob¬
jektiven und ausgewogenen Rückblick auf das vor 70 Jahren
Geschehene bieten. Über die Leistungen der „Trümmerfrau¬
en“, die Leiden in den Hungerwintern 1945/46 und 46/47, die
schönen Taten des Wiederaufbaus und die Eheprobleme von
Kriegsheimkehrern mögen andere berichten. Was uns interessiert,
sind die Erfahrungen und Unternehmungen, die Erinnerungen
und Schriften der WiderstandskämpferInnen und Verfolgten,
der im Exil Verbliebenen und der aus dem Exil Zurückgekehrten
auf diese ,,schmachbedeckte Erde“ (Berthold Viertel). Mit ihren
Augen wollen wir schen, ihre Erfolge und Mißerfolge legen wir
der Befreiung in dem wieder erstandenen Österreich als Maß
an —auch wenn sie, ihre Ideen und Irrtümer, ihre Vorstellungen
von Gerechtigkeit und Güte nicht maßgeblich geworden sind.
Dafür, daß dem so sein würde, hatten die Nationalsozialisten
durch ihren Terror vorgesorgt. Geht man von dem Resümee aus,
das Wolfgang Neugebauer in seinem Standardwerk „Der österrei¬
chische Widerstand 1938-1945“ zieht, fielen an die 110.000 Be¬
wohnerInnen Österreichs dem Terror zum Opfer, an die 100.000
waren zumindest zeitweise inhaftiert. Zählt man die bereits 1938
vor allem aus Wien vertriebenen Tschechen mit, hatten über
150.000 Menschen Österreich verlassen müssen. Einschüchte¬
rung und Demütigung, Krieg und Entbehrung wirkten zudem
verheerend auf die politische Moral und die praktische Mensch¬
lichkeit weiter Kreise der Bevölkerung, ganz abgesehen von der
Kompromittierung durch die Erlangung von Vorteilen bei der
Beraubung jüdischer Familien und der Komplizenschaft bei der
Begehung von Verbrechen. Die Menschen in Österreich waren
1945 ganz gewiß keine besseren Menschen als 1938 oder gar 1934.
Die Ruinen — weift Du, wenn man von Ruinen spricht, darf'man
nicht vergessen, wie viele Menschenruinen es gibt, das Ganze ist
eine Ruine, die Ruine eines Volkes, das dennoch weiterlebt, arbeitet,
weiterhafst, denkt, weiterstrebt.
So Berthold Viertel in einem Briefan Salka Viertel vom 24. April
1948, in dem er seine Eindrücke von einer BBC-Reportagereise
durch den Nordwesten Deutschlands zusammenfaßt. Mit gewisser
Einschränkung läßt sich Viertels Diktum auch auf Österreich
übertragen.
Die „Endphaseverbrechen“ der Nazis dienten einerseits der
Aufrechterhaltung der schwindenden Disziplin in den eigenen
Reihen, andererseits zielten sie bewußt auf die Eliminierung von
GegnerInnen und von Zeugen nationalsozialistischer Verbrechen.
Die Massenmorde an Jüdinnen und Juden in Rechnitz und in
Hofamt Priel zeugen von der Verbissenheit, mit der die Ziele
des Nationalsozialismus bis zur bedingungslosen Kapitulation
verfolgt wurden.
Waren darum die Versuche von WiderstandskämpferInnen
und zurückgekehrten Exilierten, in solch versehrte Menschen¬
landschaft hineinzuarbeiten, von vornherein vergeblich? So wie
sie sich anstellten, hätten die Juden nach der Flucht aus Ägypten
gleich einmal eine Bewegung „Demokratisches Ägypten“ ins Leben
rufen müssen, statt durch die Wüste nach Kanaan zu ziehen. Hatte
also ein Hermann Kesten nicht Recht mit diesem seinem Witz
(von 1944) über jene Exilierte, die sich über die demokratische
Zukunft Deutschlands oder Österreichs Gedanken machten? Frei¬
lich erlag Kesten selber später der Versuchung, sich wieder in die
Angelegenheiten seines Herkunftslandes zu mischen, wenngleich
er sich geographisch — wie viele andere auch — auf Distanz hielt.
Die Befreiung jedenfalls ermöglichte Berthold Viertel, Fritz
Kortner und Fritz Hochwälder auf deutschsprachigen Bühnen und
durch Filme wirksam zu werden, mit großem Erfolg zum Teil, aber
ebenso begleitet von Rückschlägen und Mißverständnissen. Auch
an weniger prominente Versuche ist zu erinnern — etwa an Marie
Frischauf-Pappenheim, einstige Librettistin Arnold Schönbergs,
die, Ärztin in einem Wiener Ambulatorium, in zwei Romanen den
„Grauen Mann“, den Prototyp des Nachkriegstreibens, beschrieb.
Wiederbegriindet wurden die Wiener Israelitische Kultusgemein¬
de und die Psychoanalytische Vereinigung. Die vor allem aus
Grofbritannien herbeigeeilten jungen politischen AktivistInnen
trugen langfristig zur Veränderung der Atmosphäre in Österreich
bei. Und vieles mehr wäre noch zum Wirken Exilierter im Nach¬
kriegsösterreich zu sagen.
Von all dem scheint im Gedächtnis offizieller österreichischer
Historiographie kaum etwas verblieben. Eher noch wird hierzu¬
lande das Grüppchen der Wiener Aktionisten als eine erfolgreiche
Gegenbewegung zur kulturellen Erstarrung der Nachkriegsjahre
dargestellt und zugleich oft der ästhetische Traditionalismus der
Emigration beklagt. Hier besteht offensichtlich ein Manko, über
das man sich in einem Land, in dem dann bald Kriegerdenkmäler
errichtet wurden, während Synagogen in Garagen und Feuerwehr¬
häuser umgewandelt wurden, nicht wundern darf. Vieles wurde
verpaßt, damals, nach der Befreiung. So manches aber wurde erst
im nachhinein verpaßt — bei der Bearbeitung der Erinnerung.
Konstantin Kaiser