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Weil wir machtlos sind gegen das Vergehen der Zeit, (...) so zerlegen und teilen wir sie und pressen sie in kleinliche Namen und Zahlen (...). Wir wollen uns Ruhe und Dauer vortäuschen und klammern uns krampfhaft an abgerissene Feizen Unendlichkeit. Aber wie von einem rollenden Rade, in dessen Speichen wir greifen, werden wir ohnmächtig mitgerissen und geschleift von dem unaufhaltsamen Ablauf der Zeit, dessen Sinn wir nicht fassen.” Gefangen sind wir im Raume des Lebens, wie ein Schiffer im Nachen auf dem unendlichen Weltmeer. Um uns ist die unbegrenzte Weite (...). Wir aber haben nichts als ein Ruderpaar, ohnmächtig wie die Flügel einer Mücke, und schmerzende Hände." Ein leichter Morgenwind sind wir, der sich (...) erhebt in einem Land, das (...) Stürme durchfahren. Ein Flötenlied, übertönt von rauschenden Orchesterklängen. Eine Kerzenflamme vom Schein einer Feuersbrunst überstrahlt. Verweht, verlöscht und verklungen — — — -* Wie ein Knabe, der sich müht die Fische des Baches mit den Händen zu greifen, so stehe ich am Ufer und über dem Spiel mit den glitzernden Wassertropfen (...) vergesse ich an die Beute, die nach Hause zu bringen mein Ziel war.” Wind, ich ziehe meine Ruder ein, die es müde sind, sich ewig gegen dich zu stemmen! Bestimme du jetzt das Ziel und lenke mein kleines Schifflein (...)! Ich habe keine Segel, sie dir entgegenzuspannen, so fange du dich statt dessen in meinen geöffneten Armen. Jage mich, Wind! Kräusle die Wellen und schlage sie murmelnd gegen den Kiel meines Bootes! So wehe doch, Wind! Jetzt ist es nicht die Zeit, sich zu legen! Warst du doch vorhin stark genug, (...) meine Richtung zu stören. Wind, warum steht jetzt mein Schiff in der Mitte des Sees statt zum Ufer zu treiben?‘ Warum bist du so sparsam mit deiner Zeit, mein Freund, und berechnest ängstlich die Stunden und Minuten? Ich habe so unzählige in meinem Leben, schwarze und weisse, schwere dunkle, die sich in mir zusammenkrampfen und nicht vergehen wollen, und schwebende rote, die so leicht verrinnen, dass ich kaum einen Hauch ihrer Bewegung an meiner Stirne spüre; (...). Was soll ich mit ihnen, Lieber? Ich schenke sie dir und du kannst sie ausstreuen über deine Tage und die Lücken mit ihnen füllen. Sieh, ich kann mich nicht daran gewöhnen, die Zeit (...) ernsthaft zu nehmen, zu denken, dass ich in ihr bin. Mir will es scheinen, als ob ich ruh. Ja, aber habe ich (...) je gesagt, dass ich Wert lege auf dieses Leben? Dass ich mir immer weiter in meinen Spiegeln gegenübersitzen will? Habe ich mich (...) nicht schon kennen gelernt bis zum Überdruss, bis zum Auswendigkönnen? Vielleicht will ich dieses Aneinandergeschmiedetsein mit mir selber einmal lösen, vielleicht schätze ich gar nicht, was ihr am höchsten zu schätzen vorgebt, und gehe gerne, (...) und lasse den Raum, den ich bis dahin gefüllt habe, euch andern. Ich habe so ofi, wenn ich das Leben fassen wollte, ins Nichts gegriffen. Vielleicht treffe ich, wenn ich ins Nichts gehe, zum erstenmal das Leben.” Wären wir doch, mein Freund, wie die Bildsäulen, die man auf Plätzen aufstellt, (...): wie eine Strasse, die viele Füsse betreten, festgestampft und gehärtet; kühl und unnachgibig wie eine Fensterscheibe, gegen die erhitzte Stirnen sich lehnen! Warum können wir nicht ohne unser Wissen wachsen und verfallen wie die Pflanzen im Garten oder warum ist für uns nichts mehr geblieben von dem gleichmütigen Dauern der Bäume? Mit Recht beneiden wir die Landschaften, die ruhig daliegen, mit Bergen und Wäldern und Brücken (...) und die kleinen geordneten Dörfer, ringsum von Hügeln gehalten. Denn in uns sind Moore, in denen man in schwarzen Löchern gurgelnd versinkt, Dünenlandschaften mit wirbelndem Flugsand und treibende Eisschollen wie auf Flüssen zur Winterszeit. Und wie ein Raubvogel, der (...) seine Kreise zieht, schrauben wir uns in die Luft und sinken mit schweren Flügelschlägen, erheben uns und stürzen wie auf Beute zu Boden, (...). Wir möchten so gerne einen Halt finden, (...) einer am andern. Aber in unserm ganzen Umfang sind wir zu gross als dass wir Raum für einander hätten in unsern beengten Leben. Darum sind wir bemüht, immer mehr wegzulassen von uns selber, wie von einem Brief, den man kürzt und zusammendrängt, um die Zeit des Empfängers zu schonen. Der aber versteht nicht, zwischen den Zeilen zu lesen und verwirft die Andeutungen, die ihm gegeben werden, als unverständlich (...). So leben wir mit abgewendeten Gesichtern nebeneinander, wie Häuser, die auf winterlicher Strafse stehen. (...) die Fensterliden sind zugezogen und dem Blick undurchdringlich und die Türen rosten in den Angeln. In jedem Hause kauert ein einsamer Bewohner vor einem kärglichen Feuer.° Der Bauer, der seine Scheunen mit Heu füllt und Brennholz rings um seine Hütte schichtet, weiß wofür er vorsorgt. Und er berechnet die Menge seiner Vorräte nach der Dauer des Winters. Auch wir sammeln ein, mein Freund, aber anders als jener. Von keiner Vergangenheit belehrt und ohne Blick in die Zukunft, tragen wir eilig ins Haus, was unsere Hände erreichen, und lassen anderes (...) ungenützt liegen. Und ohne Erfahrung, jede unserer Jahreszeiten nur einmal erlebend, verwechseln wir (...) Frühling und Sommer, Ernte und Aussaat, eins mit dem andern. Der Bergsteiger, (...) den es treibt, auf schwierigen Pfaden zu klettern, sucht sich die Gipfel, für die die Kräfte ihm reichen. (...)— Wir aber gehen auf unsere Wanderung ohne Pläne und Ziel. Hügel nach Hügel schiebt sich uns entgegen, uns den Ausblick versperrend, und jede erreichte Höhe ist nur der Anfang eines neuen und mühsamen Wegstücks. Immer gewärtig, bei jeder Biegung zu sehen, daß es ein Weiter nicht gibt, gehen wir, niedergedrückt von Ballast, jede Rast uns versagend, in rätselhafter Eile, unerforschte Seitenwege, ungepflückte Beeren und Blumen bedauernd hinter uns lassend. Wenn auch sparsam mit vielem, (...) vergeuden wir doch die uns zugemessenen Augenblicke, als könnten wir sie aus einem unerschöpflichen Vorrat durch immer neue ersetzen. Richten alle Erwartungen, statt sie in der Gegenwart (...) zu erfüllen, auf (...) Kommendes, vertrösten jedes Verlangen, verschieben jede Vollendung und geben so ewig nur Anweisungen auf eine Zukunft aus, von der wir nicht einmal wissen, ob wir Anteil an ihr haben werden. Oder wie ist es zu erklären, daß wir alles Erleben nie als endgültige Wirklichkeit ansehen, sondern nur als Übergang, (...) um, von Verwandlung zu Verwandlung drängend, zu immer Neuem zu kommen? Wie ist es zu erklären, daß wir unser ganzes Bestreben immer darauf September 2015 41