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zog und von der Armee von 1917 an als Kriegsmaler beschäftigt
wurde. Im Unterschied zu den Werken anderer Kriegsmaler legt
dieses Ölbild, das sich heute in der Sammlung des GrazMuseums
befindet, Zeugnis davon ab, wie „der Krieg“, also die Armeen der
kriegführenden Imperien, diesen Ort und seine Menschen im
Feuer verschlingen. Zweieinhalb Jahre, bevor Thöny die Szene
auf Leinwand bannte, fand dort mit Richard der jüngste der drei
Eisler-Brüder den Tod als Kanonenfutter. Mit „Premislany“ oder
„Przemyslany“ ist wohl der Ort Peremyshlyany in der heutigen

Renate Welsh-Rabady
Fräulein Emma

Sogar Jod brannte weniger, wenn Fräulein Emma es auf unsere
aufgeschürften Knie tupfte. Nie schimpfte sie, nie verriet sie uns,
egal, was wir angestellt hatten. Sie freute sich immer, uns zu schen,
und Tassilo streckte seine dicken Ärmchen nach uns aus, gurgelte
und blies Spuckeblasen.

Von den zwölf Mädchen im Haus waren drei schon über vier¬
zehn und ließen sich nur selten dazu herab, mit uns zu spielen,
zwei waren so klein, dass wir sie wie Puppen mitschleppten, aber
sofort bei ihren Mütter abgaben, wenn sie unruhig wurden. Wir
anderen bauten Kaufmannsläden, in denen es alles gab, wovon
wir nur gehört hatten, natürlich immer in bester Friedensqualität:
Steinbrote, Kieselkaisersemmeln, Sandtorten, Panamaschinken
— wie wir auf das Wort gekommen sind, weiß ich nicht, es han¬
delte sich um einen gedrechselten Knauf, den wir im Bauschutt
gefunden hatten. Wir turnten auf der Teppichklopfstange und
wollten zum Zirkus gehen, dann gründeten wir ein Theater. Vor
allem spielten wir Familie und stritten endlos darüber, wer die
Rolle des Vaters übernehmen durfte. Wenn wir uns endlich ge¬
einigt hatten, holten wir Tassilo, der immer das Kind und mit
dieser Rolle sehr zufrieden war.

Fräulein Emma freute sich, dass wir ihn in unsere Spiele ein¬
bezogen.

Er saß aufihrem Schoß, sang mit heller Stimme mit und patsch¬
te mit seinen dicken Fingern auf die Tasten, wenn sie auf dem
Klavier Kinderlieder spielte.

„Du fallst vom Fleisch und er wird dicker und dicker“, schimpfte
Frau Suchadownik. „Schau dir seine Speckringerln an!“

Fräulein Emma streichelte mit einem Finger Tassilos Handge¬
lenk. „Der ist nicht dumm“, sagte sie.

„Hat auch keiner gesagt!“ Frau Suchadownik war unsere Haus¬
meisterin. Jeder hatte Respekt vor ihr, auch Papa, auch mein
Großvater. Jetzt schüttelte sie den Kopf. „Du bist - ein Pelikan.
Das bist du. Gesund ist das nicht. Eines Tages kommt der Alte
am Ende doch zurück, dem ist alles zuzutrauen, und was ist
dann? Du willst das nicht alles noch einmal durchstehen, oder?“
„Es ist zu spät“, sagte Fräulein Emma.

Ich war völlig verwirrt. Wofür war es zu spät? Wer war dieser
Alte, den sogar Frau Suchadownik für gefährlich hielt? In der
Nacht träumte ich von einer grauen gesichtslosen Gestalt, die
immer näher kam und mich in ihrem fetzigen grauen Mantel
einfing. Ich wachte schreiend auf und traute mich nicht aufs
Klo zu gehen, bis ich Schritte im Vorzimmer hörte. Pelikan, Pe¬
likan, dröhnte es in meinem Kopf. Wieso Pelikan? Mir fiel dazu
nur die schwarz-grüne Füllfeder meiner Tante Grete ein, die alle

Ukraine gemeint, zirka dreißig Kilometer südöstlich von Lemberg,
dem heutigen Lviv.

„Lasset die Toten ihre Toten begraben“? Vielleicht. Aber zuerst
müssen sie einmal lebendig vor unseren Augen erschienen sein!

Von Karl Wimmler ist zuletzt der Erzählband „Das Gegenwärtige
des Vergangenen“ (Klagenfurt: Kitab 2014) erschienen.

bewundert hatten. „Eine echte Pelikan!“ Tante Grete hatte sie
zwischen Zeigefinger und Mittelfinger gedreht und ihre Augen
hatten geglitzert. Lange Zeit sagte niemand etwas. Ich hatte früh
gelernt, wie gefährlich die harmlosesten Wörter werden konnten,
und dass es oft besser war, den Mund zu halten, auch wenn mir
das noch so schwer fiel.

Noch am selben Tag lud Großvater mich ein, mit ihm Tante
Grete im Sanatorium zu besuchen. Ich betrachtete das als Zeichen,
auch wenn ich nicht wusste wofür, auf jeden Fall freute ich mich.
Es war schön, Großvater für mich zu haben, außer Hörweite von
seiner strengen Wirtschafterin hatte er Spaß an meinen Fragen,
und ich liebte die sanfte Stimme der Tante und die Art, wie sie
mich ansah. Wenn ich neben ihr saß, war ich beinahe überzeugt,
ich könnte ein liebes, braves, gutes Kind sein.

In der Straßenbahn erkundigte ich mich nach dem Pelikan.
Großvater beschrieb den Vogel und erzählte von dem Mythos, der
Pelikan reiße in Notzeiten seine Brust auf, um seine Jungen mit
seinem eigenen Blut zu füttern. Mir liefes kalt über den Rücken.
Fräulein Emma ein Pelikan? Ich wusste, dass ich beim Einschlafen
vor mir sehen würde, wie dem lieben Fräulein Emma das rote
Blut aus der Brust schoss. Kleine schwarze Fliegen schwirrten
vor meinen Augen. Großvater fischte ein Hustenbonbon aus
den Tiefen seines Überzichers und steckte es mir in den Mund.

Tante Grete wartete vor dem großen weißen Haus auf uns. Ihre
grauen Locken waren perfekt frisiert wie immer, zwei Wellen rechts,
zwei Wellen links von ihrem schmalen Gesicht, ihre Lippen rot,
ihre Nase zart gepudert. Ich fing an zu weinen. Sie tätschelte mir
die Wangen und gab mir ihr Taschentuch, das nach ihrem Parfum
duftete und viel zu schön war, um sich hinein zu schnäuzen. Ich
drehte mich weg, zog durch die Nase auf und umklammerte das
Tuch mit dem gehäkelten Spitzenrand.

„Wir gehen jetzt in die Konditorei“, sagte Großvater und reichte
Tante Grete den Arm. Sie fragte nicht nur nach jedem einzelnen
Familienmitglied, sondern auch nach allen anderen Leuten im
Haus, und Großvater gab bereitwillig Auskunft. Das meiste war
langweilig, ich beschäftigte mich damit, genau an der Bordkante
zu gehen, bis ich Fräulein Emmas Namen hörte.

„Ich muss so oft an sie denken! Wie geht es ihr?“

„Gut“, sagte Großvater. „Sehr gut, so seltsam das klingt, seit
sie den Buben hat.“

Tante Grete blieb stehen. „Welchen Buben?“

Großvater bat sie um Geduld, die Geschichte sei lang und
kompliziert, die könne er besser im Sitzen erzählen. Ich machte

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