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unbrauchbaren Reste in den Coloniakübel trug. Wenn er zurückkam, würde ich ihn zur Rede stellen. Ich drückte mich an die Mauer. Als ich wieder Schritte hörte, atmete ich tief ein, hielt den Atem an, setzte zum Sprung an — und warf meinen Vater beinahe um. Ich hing noch an seinem Rücken, da lief es mir warm über die Beine. Eigentlich mochte ich Märchen nicht, sie bestätigten nur, dass man sich auf nichts verlassen konnte, dass Menschen sich in Raben verwandelten, in Rehe oder Drachen, dass überall der Tod lauerte. Aber wenn Fräulein Emma Tassilo Märchen vorlas, dann musste ich zuhören genau wie die anderen Kinder. Wir hockten auf dem abgetretenen Teppich, die Kleinsten kuschelten sich auf Sofakissen. Manchmal hätte ich am liebsten wie Tassilo den Daumen in den Mund gesteckt, das tat ich natürlich nicht. Fräulein Emmas Stimme war warm und tief. Wenn Frau Suchadownik zufällig vorbeikam, konnte es sein, dass sie an den Türstock gelehnt stehen blieb und sich nach einer Weile einen Stuhl holte und zuhörte. Ende November starb Tante Grete. Großvater brachte Fräulein Emma die Nachricht. Sie stand gerade in der Küche und knetete einen Germteig, Tassilo rollte ein kleines Stück Teig zu einer Kugel. Fräulein Emma wischte ihre mehligen Hände in die blaue Schürze. Tassilo wackelte auf dem Hocker hin und her. Ich packte ihn, stellte ihn auf den Boden, sofort begann er zu jammern. Fräulein Emma hob ihn auf, trug ihn ins Zimmer, setzte sich mit ihm in den Ohrensessel, wiegte ihn hin und her. Großvater setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. „Das Herz“, sagte er. „Sie hat nicht gelitten.“ „Ich wollte sie doch besuchen“, murmelte Fräulein Emma. „Sie war so ein lieber Mensch.“ Großvater nickte. „Ich stell mir gern vor“, sagte er, „dass alle unsere Lieben da oben versammelt sind und es ihnen gut geht und sie zu uns herunterschauen und auf uns aufpassen.“ Fräulein Emma seufzte. „Wär schön, wenn ich das glauben könnt. Mir hat dieser, dieser Ver-Führer den Himmel leergeräumt. Da ist nichts mehr.“ Ich hatte Großvater nie so erregt gesehen. „Das dürfen Sie nicht sagen, Fräulein Emma! Bitte! Sie sind doch selbst der lebendige Beweis dafür, dass es das Gute gibt auf der Welt.“ „Und wer gewinnt zum Schluss?“, fragte Fräulein Emma. „llo winnt“, sagte Tassilo. Seit ein paar Tagen sagte er das bei jeder Gelegenheit und freute sich, wenn wir lachten. Fräulein Emma drückte ihn so fest an sich, dass er sich losmachte und von ihrem Schoß sprang. „Gebe Gott, dass du recht hast“, sagte Großvater. Bevor er ging, küsste er mich auf die Stirn. „Glaube mir, deine Mama im Himmel passt auf dich auf.“ Tassilo zupfte ihn am Ärmel. Es dauerte eine ganze Weile, bis Großvater verstand und den Deckel seiner Taschenuhr aufschnappen ließ. Dann hielt Tassilo sein Ohr an die Uhr und bewegte mit verklärtem Gesicht seinen Zeigefinger im Takt des Sekundenzeigers hin und her. Einzelne Szenen sind überdeutlich erhalten, mit jedem Fleck an der Wand, jedem Kratzer in der Politur, jeder ausbissenen Ecke einer Kaffeetasse, jeder Verzögerung im Sprachrhythmus, jeder Handbewegung, sogar mit Halbsätzen, die ich nicht verstanden hatte. Und dazwischen lange Leerstellen, als wäre ich nicht dabeigewesen in diesen Tagen und Wochen meines Lebens. Zwei Jahre mussten vergangen sein. Der Fliederstrauch, der unterm Schutt begraben gewesen war, hatte längst wieder ausgetrieben, wir hatten mit Fräulein Emma am Himmelhof Primeln und Veilchen ausgegraben und im Hof gepflanzt. Wenn wir am Morgen in die Schule gingen, stand Tassilo schon da und begoss unsere Pflanzen aus seiner kleinen grünen Kanne. Frau Suchadownik war es, die die Nachricht überbrachte, dass Herr Maringer mit einem der nächsten Kriegsgefangenentransporte zurückkommen würde. „So viele sind draufgegangen, warum hat ausgerechnet der schlechte Mensch davonkommen müssen?“, schimpfte sie laut. Fräulein Emma legte den Finger aufden Mund, Frau Suchadownik ließ sich nicht einbremsen. „Weil’s wahr ist! Der arme Bub.“ Herr Maringer war ein düsterer Hüne, der uns allen Angst machte. Wir hörten Tassilo stundenlang schluchzen und nach Emmamama schreien. Mein Vater und mein Großvater versuchten vergeblich, mit Herrn Maringer zu reden, der drohte ihnen mit der Polizei. Diese Verweichlichung müsse endlich ein Ende haben, brüllte er. Wenn sein Sohn schon ein Idiot sei, müsse er wenigstens Disziplin lernen. Eines Tages war Fräulein Emma verschwunden. Wir haben sie nie mehr geschen. Herr Maringer brachte eine streng gescheitelte schmallippige Frau ins Haus, die mit niemandem redete. „Sie renkt dem Buben noch den Arm aus, wie sie ihn neben sich herzerrt“, sagte Frau Suchadownik zu meinem Vater. „Und dankt nicht einmal, wenn man sie grüßt.“ Er erklärte ihr, dass er erst eingreifen könne, wenn Tassilo tatsächlich verletzt sei. Sie wandte sich empört ab. Tassilo gab auf. Er trottete neben der neuen Frau her wie an einer unsichtbaren Leine. Wenn wir ihn grüßten, schaute er weg. Neue Mieter zogen in Fräulein Emmas Wohnung ein. Wir spielten nicht mehr im Hof. Nach dem Tod von Herrn Maringer ging Frau Maringer jeden Morgen mit Tassilo in die Frühmesse. Sie band seine Hände an die Bettpfosten, damit er nicht onanieren konnte. Als mein Vater Frau Maringer Vorhalte machte, zeigte sie ihn wegen sexueller Belästigung an. Wir hörten Tassilo nachts oft brüllen und fürchteten uns vor ihm, wenn wir ihm im Stiegenhaus begegneten. „Fräulein Emma“ soll zusammen mit anderen Kurzgeschichten in Renate Welsh-Rabadys Erzählband „Kiesel aufmeinem Schreibtisch“ (Arbeitstitel) veröffentlicht werden. Renate Welsh-Rabady, geboren 1937 in Wien, studierte Englisch, Spanisch und Staatswissenschaften, arbeitete lange Zeit als Übersetzerin und ist seit 1969 als freischaffende Schrifistellerin tätig. Sie leitet Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, verfasste zahlreiche und vielfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbiicher, zu denen Klassiker wie „Johanna“, 1979, oder „Das Vamper!“, 1979, gehören. Sie schrieb Hörspiele und Romane (zum Beispiel „Das Lufthaus“, 1994, „Liebe Schwester“, 2003, „Die schöne Aussicht“, 2005, „Großmutters Schuhe“, 2008) und brachte 2013 im Dom Verlag, Wien, das Buch „Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen. Texte aus der Schreibwerkstatt im VinziRast-Corti Haus“ heraus. Seit 2006 ist sie Präsidentin der „Interessengemeinschaft österreichischer Autorinnen und Autoren“. In ZW Nr. 1-2/2012, S. 21-23, erschien ihre Erzählung „Nicht hier“. September 2015 59