einzige Macht geblieben, die in der Bevölkerung verankert ist und
dabei eine soziale, zivilgesellschaftliche und kulturelle Bedeutung hat.“
Nicht einmal Berlusconi ist es gelungen, die
Schäden anzurichten, die Renzi anrichtet
Berlusconi ist nach dem „Prinzip des Privilegs“ vorgegangen. Es
ist ihm gelungen, das Konzept zu legitimieren, dass man sich der
Politik zum eigenen Vorteil und zum eigenen Nutzen bedienen
kann. Die Reformen von Renzi bieten diesem selbst als Einzel¬
person keine Vorteile, doch wirken sie sich auf die große Masse
der arbeitenden Menschen aus. Wenn die „berlusconeanischen
Dekrete“ ad personam ergingen, so sind jene von Renzi contra om¬
nes! Renzi ist dabei, den Sozialstaat zunichte zu machen, genauer
gesagt: den Wohlfahrtsstaat.
Was das Fass zum Uberlaufen bringt, ist die von Renzi geplante
Außerkraftsetzung des Artikels 18 der italienischen Verfassung.
Dieser Artikel 18 ist in Italien mehr als nur ein Symbol. In der
historischen Phase, die wir zur Zeit erleben, ist dieser Artikel ganz
besonders wichtig, um in unserem Land soziale Mindeststandards
zu sichern: Er verbietet einem Arbeitgeber, jemanden ohne „an¬
gemessenen, fairen“ Grund zu entlassen, schützt vor Willkür,
Vetternwirtschaft, vor Rassendiskriminierung, vor Sexismus sowie
vor Benachteiligungen aus religiösen oder anderen Gründen.
In Italien gibt es mehr als 46 Formen von Anstellungen mit
befristeten Arbeitsverträgen, ein Umstand, der mit der Zeit zu
noch höherer Arbeitslosigkeit geführt hat. Jetzt versucht uns Renzi
davon zu überzeugen, dass das Außerkraftsetzen des Artikels 18
die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, ver¬
ringern würde. Frei nach dem Motto: Wenn schon Krise, dann
muss es der Arbeitnehmer sein, der auf seine Rechte verzichtet.
Könnte man nicht stattdessen die Gehälter der Führungskräfte
und Manager kürzen? Als mein Großvater in der Fabrik gearbeitet
hat, verdiente sein Chef zwanzig Mal so viel wie er. Heute verdient
der Direktor einer Fabrik das Tausendfache eines Arbeiters! Viel¬
leicht würden Unternehmen keine Defizite machen, wenn sie für
Spitzengehälter ihrer Führungskräfte angemessene Obergrenzen
einführen würden.
Hat die Linke die Arbeiterkultur vergessen — die Tradition von
Olivetti zum Beispiel? Ja, es scheint so.
(Olivetti ist in Italien ein Mythos! In den Fabriken des Anti¬
faschisten Adriano Olivetti (1901 — 1960) verdienten Arbeiter
mehr als anderswo, hatten aber auch mehr Freizeit sowie Mög¬
lichkeiten sich weiterzubilden. Olivetti baute für seine Arbeiter
Wohnungen, Bibliotheken, Kindergärten, Mensen, Parkanlagen...
Manche meinten, Olivetti würde früher oder später in Konkurs
gehen. Das Gegenteil war der Fall: Die besten Ingenieure woll¬
ten bei ihm arbeiten, und seine Arbeiter haben so viel geleistet,
dass sein wichtigstes Produkt, die Olivetti-Schreibmaschine, ein
internationaler Erfolg wurde.)
In den Straßen unserer Städte herrscht Gewalt
Mein Großvater — Fabrikarbeiter und Gewerkschafter — hatte den
Artikel 18 teilweise als „ehrbare Sache“ bezeichnet. Heute haben
Arbeitnehmer und Gewerkschaften gegen den schamlosen Akt,
den Renzi „job act“ nennt, in ganz Italien Streiks angeordnet.
Zumindest bei diesen Demonstrationen haben wir Italiener Seite
an Seite mit Einwanderern gesehen. Doch wer sind denn nun
die Feinde? Tränengas, Knüppelschläge, Angriffe der Polizei auf
Demonstranten und umgekehrt, verletzte Polizeibeamte; aber wer
kämpft eigentlich gegen wen? Sind nicht Polizeibeamte, wie schon
Pierpaolo Pasolini bemerkte, genau die gleichen armen Leute wie
jene, die auf die Straße gehen, um zu protestieren?
Der „job act“ wurde am 24. Dezember 2014 verabschiedet —
ein „Weihnachtsgeschenk“ für die italienischen Arbeiter. Doch
schon davor war es möglich, eine große Anzahl von Chor- und
Orchestermitgliedern der Opera di Roma zu entlassen. Unsere
Hauptstadt ist die einzige in einem europäischen Land, die keine
Staatsoper mehr besitzt!
Und Renzi besteht darauf, Privatisierungen durchzuführen.
Davon betroffen sind auch öffentliche Gewässer...
Und es gibt immer jemanden, der einen
alten Sündenbock an die Wand malt
In Zeiten wie diesen tauchen anachronistisch anmutende antisemi¬
tische Slogans auf. Einer davon ist der im Internet nachzulesende
Aufschrei einer Hausfrau, die drei Kinder, die weder studieren
noch arbeiten, und einen arbeitslosen Ehemann hat. Sie hat noch
nie einen Juden geschen, gibt sich jedoch antisemitischen Fanta¬
sien hin — esoterischen Verschworungstheorien, die international
Konjunktur haben.
Ein anderer antisemitischer Spruch ist mit schwarzer Farbe auf
eine verfallene Mauer in einer Vorstadt gemalt. Er steht neben
einem weiteren Slogan in Blockbuchstaben, die keineswegs ver¬
blasst sind: ,,Es lebe der Duce"
Benedetto Croce sagte, dass die Welt nicht eindimensional ist.
Den Entscheidungen, welche zur Erlangung des „Gemein¬
wohls“ führen, muss die Überprüfung aller dafür erforderlichen
Aspekte zugrunde liegen: der wirtschaftlichen, der moralischen,
der philosophischen, der künstlerischen... Die Autonomie dieser
einzelnen Kategorien darf nicht als Vorherrschaft einer „Funktion
des Geistes“ über eine andere verstanden werden. Es sollten, ganz
im Gegenteil, alle Kategorien des Geistes miteinander verbunden
werden.
Die Einigung Italiens 1861 war für den großen italienischen
Philosophen Benedetto Croce (1866 — 1952) die Metapher für das
neue Europa. So wie sich die Völker der verschiedenen Regionen
der italienischen Halbinsel mit ihren unterschiedlichen Sprachen,
Traditionen und Kulturen vereint hatten, um ein gemeinsames
Land zu erschaffen, welches allerdings auch seine Unterschiede
pflegt, würde auch das neue Europa entstehen müssen. Dies ist
die philosophische Tradition der italienischen Linken. Ich bin
stolz darauf und will sie nicht vergessen.
Aus dem Italienischen von Johanna Wieser. Überarbeitet und lektoriert
von Vladimir Vertlib.
Raffaella Passiatore wurde 1966 in Paderno, Lombardei, geboren.
Nach dem Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Musik in
Bari, Salzburg und Wien und längeren Aufenthalten in Latein¬
amerika zog sie 1989 nach Salzburg. Sie unterrichtete Klavier am
Salzburger Musikum, Italienisch am Italienischen Kulturinstitut