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Unterlagen. Danach stellte sich das Problem, bei der britischen
Botschaft eingelassen zu werden. Der Zugang wurde von einem
Österreicher geregelt, der die Antragsteller schikanierte. Fritz kam
mit seinen Unterlagen, behauptete Dokumente von der norwegi¬
schen Botschaft abgeben zu müssen und wurde vorgelassen. Die
britische Konsulin nahm ihm das Versprechen ab, England nur
als Zwischenstation zu betreten und stellte ihm die notwendigen
Papiere aus. In England selbst wurde ihm empfohlen, einfach
dort zu bleiben. Fritz überlegte kurz, dachte aber dann an sein
Versprechen. An Bord der Pan Norway arbeitete er, der Jurist, als
dagman (Tagmann) und smoerer (Schmierer).

In der Zwischenzeit war sein Bruder Ernst in Bolivien gelandet.
Die teuren Visa für Peru waren gefälscht gewesen und sie durf¬
ten nicht landen. Dank der Hilfsbereitschaft des bolivianischen
Präsidenten Busch kamen sie nach Bolivien. Darüber berichtete
die noch in Wien weilende Mutter Ottilie so:

.. so weist Du auch nicht, daf Erni statt in Lima in La Paz ist. Sie
durften als Juden mit Touristenvisen nicht (in Peru) landen. Es geht
ihnen dort schon recht gut, sie haben schon eine eigene Wohnung, im
Anfang hatte Erni Nasenbluten und alle hatten Atembeschwerden.'”
Die Erzählung aus der Sicht von Bruder Ernst:

Am 16.IIl., einen Tag vor Peru, kommt ein Kabel aus Lima,
wonach wir und viele andere in Peru nicht landen dürfen. Die Visa
sind ungültig, der Konsul verhaftet. Verzweiflung. Der Hilfsverein
besorgt uns in Lima bolivianische Visa.

Wir kommen nach einer unglaublich strapaziösen Fahrt nach La
Paz. Am Bahnhof werden wir, 400 Männer, von der Polizei emp¬
fangen und direkt in die Kaserne geführt, wo wir auf Stroh schlafen.
Die Frauen dürfen in Hotels wohnen. Man ist sehr nett zu uns lässt
uns am nächsten Vormittag frei.

(...) Lage von La Paz herrlich. Die innere Stadt gefällt mir nicht
besonders und wird mir vor allem durch die Indios verleidet, das
sind die Eingeborenen, 80% der Gesamtbevölkerung, die entsetzlich
stinken und auf einer ganz niederen Kulturstufe stehen.”

Nach einem halben Jahr auf See konnte Fritz Kalmar abheuern,
in Peru an Land gehen und nach Bolivien weiterreisen.

In La Paz waren nun Fritz und Ernst Kalmar vereint, nach
einiger Zeit kam auch Mutter Ottilie dazu. Heinz Kalmar befand
sich auf See und er hatte eigene Pläne für sein Leben in Bolivien
nach seiner Ankunft. Ihm schwebte ein Leben aufdem Land vor,
wobei nicht anzunehmen ist, dass er von den Vorstellungen der
bolivianischen Regierung Kenntnis hatte.

Nur noch was Bolivien anbelangt. Du hast, glaube ich, von dem,
was ich mit den Freundinnen und Freunden machen will, nur säu¬
seln gehört. Du schreibst nämlich „dann wird es auch möglich sein,
Freunde hinüberzunehmen“. Nein, Friedl, das will ich nicht. Ich
fühle mich für meine Freunde, die Mitglieder meiner Gruppe sind,
verantwortlich. Wir wollen gemeinsam uns in Bolivien ansiedeln und
ich muß dieses Ziel immer vor Augen halten. Die Familie arbeitet,
daß sie in Bolivien zusammenkommt. Wir wollen dasselbe, mit allen
Mitteln müssen wir es erreichen. (...) Wenn ich dem jetzt folge, so
würde ich natürlich zu Erni nach La Paz. Das will ich gar nicht. Soll
ich dort eine Arbeit anfangen? Herumlungern kann ich nicht, also
muifste ich eine beginnen und, wenn die Siedlung zustande kommt,
wieder aufgeben — wenn man mich dann sie aufgeben lässt. Ich will
aber von Anfang an für die Siedlung und in der Siedlung arbeiten.“

Antisemitismus in Bolivien

Im Jahr 1905 kam eine Gruppe russischer Juden nach Bolivi¬
en, der eine andere aus Argentinien folgte. Noch später kamen
Sephardim'’ aus der Türkei und dem Nahen Osten dazu, die
jüdische Gemeinde blieb aber weiterhin schr klein. Ab 1930
nahm deren Zahl aber aufgrund der Ereignisse in Europa zu.
Dadurch nahm auch die Notwendigkeit zu, sich zu organisieren,
und es entstanden diverse Einrichtungen. Schon 1935 wurde der
Israelitische Zirkel von Osteuropäern gegründet. Dem folgte die
Deutsche Jüdische Vereinigung. Unter der Ägide des Jüdischen
Zentralkomitees entstanden verschiedene gemeinnützige Diens¬
te wie die Jevrä Kedushä, der israelitische Friedhof, der Bikkur
Cholim (Krankenbesuch) und das Seniorenheim. Die Stadt La
Paz unterhielt eine Israelitische Schule.'°

Bekanntlich bedarf es keiner Juden, um Antisemitismus ent¬
stehen zu lassen. Leön Bieber widerspricht Darstellungen, der
Antisemitismus in Bolivien sei durch schon dort ansässige Deut¬
sche gefördert worden. Anders hört sich aber die Schilderung von
Egon Schwarz an:

Schon wenige Tage nach meiner Ankunft ertönte aus einem der
Lautsprecher, die an öffentlichen Plätzen angebracht waren, eine
antisemitische Hetzrede. Uns wurde erklärt, daß die Radiostation
von der deutschen Kolonie gekauft war. Welche Enttäuschung! War
man vor dem Höllenspuk der Nazis um die halbe Erde geflüchtet,
nur um sich eine Schimpftirade anhören zu müssen, wie sie Goebbels
nicht ekliger hätte hinausposaunen können?!”

Tatsache ist, dass die Präsidenten, die nach Busch an die Macht
gekommen sind, eine wesentlich größere Skepsis den jüdischen
Immigranten gegenüber hegten. Die nationalistische Partei Mo¬
vimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) hat sich in dieser
Beziehung besonders hervorgetan und wurde bald verdächtigt,
Antisemiten in ihren Reihen zu haben. Die USA haben die Partei
zudem beschuldigt, von der NSDAP beeinflusst zu sein.

Wolfgang Benz'* sieht zwei Ursachen für die aufkeimende
Judenfeindschaft: erstens, weil trotz der Bedingungen der Ein¬
wanderungsbehörden nur zwei bis drei Prozent der Flüchtlinge
in die Landwirtschaft gingen, zweitens, weil sich 90% von ihnen
in La Paz oder Cochabamba niederließen. Dort beherrschten
sie mit Straßenhandel und kleinen Geschäften nach kurzer Zeit
die Stadtzentren und bewirkten einen Anstieg der Preise von
Lebensmitteln und Wohnraum.

Bieber zitiert auch aus ,,La Reptiblica“ (Afio XVI, n° 3466, La
Paz 30.05.40, p.4), dem Organ des Partido Socialista:

Wenn man auf die jüdische Immigration zurück blickt, werden
wir die Änderungen in dem Verhalten unseres Volkes gegenüber
diesen Elementen erkennen. Erst haben alle ihre Ankunft nahezu
herbeigesehnt. (...) Statt sich der Landwirtschaft zu widmen oder
für das Land nützliche Unternehmen aufzubauen, bildeten sie eine
Konkurrenz für kleine Händler und Handwerker (...). Auf der an¬
deren Seite hat die hebräische Lawine in den Städten schmerzhafte
Probleme für die Bevölkerung geschaffen. Wohnen wurde unerhört
teuer, Nahrungsmittel wurden knapp. (...) Logischerweise wurde aus
dem toleranten Gefühl den Immigranten gegenüber eine feindselige
Haltung. Deswegen bitten wir den Herrn Präsidenten um eine Lö¬
sung. Das Volk ist dem semitischen Element gegenüber empört. Und
diese Empörung kann sich mit Gewalt Luft verschaffen; dem sollte
man vorbeugen.”

Dezember 2015 31