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Die Anfeindungen bewegten die Juden dazu, sich in ihren Or¬
ganisationen abzukapseln, was wiederum zu einer Steigerung des
Antisemitismus führte.

Man erkennt also durchaus bekannte Muster der Stimmungs¬
mache gegen eine Minderheit. Selbst die fast nicht mehr vor¬
handene jüdische Bevölkerung im heutigen Bolivien ist weiter¬
hin Angriffen ausgesetzt: Die Synagoge in Cochabamba wurde
2014 mit Molotow-Cocktails attackiert und der Präsident der
Deputiertenkammer, ein Mitglied des regierenden Movimiento
al Socialismo, bedauerte, dass das „jüdische Volk nichts aus dem
Holocaust gelernt hätte“.

Die Zeit des Weltkrieges in La Paz

Was konnte man als Neuankömmling machen, um Geld zu ver¬
dienen? Unter den Flüchtlingen waren ja auch Menschen mit
universitären Abschlüssen und besonderen Qualifikationen. Tat¬
sächlich waren die Stellen, die man den Österreichern vorgeschla¬
gen hat, für sie von keinem besonderen Interesse: Man suchte
Nachtwächter, Friseure, Maniküren, Heilgehilfen, Verkäufer oder
Krankenschwestern.” Die fehlenden Sprachkenntnisse zwangen
viele Emigranten, solche Arbeiten trotzdem anzunehmen, um ein
Auskommen für sich und ihre Familien zu finden.

Ludwig Popper hatte mit seiner Familie am 15. August 1939
La Paz erreicht. Mangels Spanischkenntnissen waren die ersten
Gespräche mühsam und es war verständlich, dass man sich an
andere Deutsch sprechende Menschen wandte. So kam Ludwig
Popper in Kontakt mit Herrn Winkler, der schon einige Jahre
in Bolivien lebte. Mit dessen Hilfe, seinen wissenschaftlichen
Unterlagen und etwas Bestechung gelang es ihm, nach 14 Tagen
einen Vertrag mit der Sanitätsdirektion des Militärs in der Tasche
zu haben. So begann der achtjährige Aufenthalt der Familie Popper
in Bolivien in einem Ort namens Ibibobo:

In La Paz hatte man uns den Platz als eine gut eingerichtete Ort¬
schaft geschildert, in der man alles bekommen könne, was man halt
so zu einem bequemen Leben brauche. Wir halten vergebens Ausschau
nach einer Strafe, nach festen Häusern — nichts. Der Camion bleibt
vor einer niedrigen Sanddüne stehen, an deren Rand sich ein paar
Hütten erheben, die so aussehen wie jene, die wir unterwegs gesehen
haben.

(..) Auf der gegenüber liegenden Seite stehen drei eben fertig gestellte
Lehmhütten, von denen eine uns als Domizil zugewiesen wird. (...)
Unsere Hütte besteht aus dem landesüblichen Material: Der Boden
ist gestampfier Lehm, die Wände ebenfalls aus Lehm über einem
Geflecht aus dickeren Pfählen und Zweigen; das Dach aus mit Lehm
abgedichtetem Stroh. Die Tür- und Fensteröffnungen müssen erst mit
einer Matte aus Bambus oder aus den dünnen, geraden Zweigen des
‚palo bobo‘ verkleidet werden."

Der Aufenthalt der Poppers gleicht einer Odyssee: Von 1939 bis
1946 versah Ludwig Popper seinen Dienst in Ibibobo, Villamon¬
tes, Reconquista, Capirenda, Carandayati, Lagunillas, Choreti,
Vallegrande und Sucre.

„Rique“ Salzmann hatte bald Kontakt mit der Familie Kalmar;
zusammen mit Ernst und Heinz wurde der Pfadfinderbund „El
Cöndor“ gegründet. Er setzte sich aus jüdischen „Emigranten¬
jugendlichen“ aus Deutschland, Österreich und Ungarn zusam¬
men. Rique, damals 16, wollte ursprünglich Gesang studieren,
was nun nicht mehr möglich war. Er ging bei einem politischen

32. ZWISCHENWELT

Fliichtling aus Deutschland in die Lehre und machte sich nach
sechs Jahren selbständig.

Auch Ernesto Allerhand schildert die ersten Impressionen und
das Zusammentreffen von sehr unterschiedlichen Menschen:

Da sind zwei Welten aufeinander gestoßen. Die haben uns nicht
verstanden und wir haben sie nicht verstanden. Es war ein wildes
Land, es waren leider nicht die Indianer, die ich von Karl May ge¬
kannt habe, die wir idealisiert haben. Sehr gute Menschen, ein sehr
kleines, sehr unterdrücktes Bergvolk. 90% Analphabeten.”?

Wie sich über Wasser halten? Rechtsanwalt Dr. Allerhand hatte
etwas Kapital und wurde von einem ehemaligen Bankdirektor aus
Wien überzeugt, Käse herzustellen — Liptauer! Man kaufte Töpfe
und Messer und machte sich an die Arbeit. Dr. Allerhand packte
seine Aktentasche, ging mit dem Käse hausieren und war auch
erfolgreich. Dadurch kam die Mutter auf die Idee, Marmelade ein¬
zukochen; diese wurde in Gläser eingefüllt und ebenfalls verkauft.

Nach einem Jahr hat Ernesto Allerhand gut Spanisch gesprochen.
Er begann als Lehrling bei einem Elektrotechniker, auch einem
Emigranten. Es gab keine Lichtanlagen und wenn die Emigranten
Wohnungen mieteten, kam diese Firma und installierte einen
Draht außen an der Wand, eine Steckdose, einen Schalter und
eine Lampe. Der Verdienst betrug 10 Bolivianos (25 Dollarcent)
in der Woche.

Was sehr positiv war in Bolivien, war, daß sich alle Emigranten
zusammengeschlossen haben. (...) Es gab damals einen österreichischen
Club, der sehr früh gegründet wurde, wo sich eben die Österreicher
gefunden haben. Später, wo es uns schon ein bifschen besser ging, gab
es viel Kabarett, gutes Kabarett. Einer von denen, die das damals ins
Leben gerufen haben, ist heute in Wien, einer von den drei Brüdern
Kalmar. Er hat das zusammen mit einem gewissen Dr. Terramare
und seiner Frau gemacht, die eine sehr gute Schauspielerin war. Das
hat uns das Leben natürlich viel schöner gemacht. Es gab zu Silvester
dann schon Bälle, es gab sogar einen Dirndlball. Jeder, auch meine
Eltern, hatte da noch im Gepäck ein Dirndl oder eine Lederhose.”

Egon Schwarz Vater, der in Wien eine kleine Wäscheerzeugung
besessen hatte, fand eine Stelle in einem Textilunternehmen. Egon
mischte Zement und schlug mit Hammer und Meißel Kanäle in
die Wände eines Neubaus. Das Textilunternehmen wurde aber
nach Cochabamba verlegt und die Eltern mussten dorthin übersie¬
deln, während Egon, gerade 17 Jahre alt geworden und abhängig
von den Einkünften seiner Arbeit, in La Paz blieb. Wie er heute
meint, war es gerade das falsche Alter — zu alt, um sich leicht
anzupassen, aber auch zu jung, um psychisch gefestigt zu sein.

Es wäre mir viel innere und äufere Unrast erspart geblieben, aber
dann hätte ich auch wohl kaum die intime Vertrautheit mit Südame¬
rika erworben, die mir nun zu eigen ist. Anfänglich nahm ich das
Neue, das auf mich eindrang, unvermeidlicherweise mit einem in
Österreich ausgebildeten Sensorium auf, aber allmählich korrigierten
die bolivianischen Erfahrungen meine europäische Vorstellungsweise
und wurden integrale Bestandteile meines Weltverständnisses. (...)

Von nun an führte ich ein unstetes Wanderleben, ständig auf der
Suche nach erträglichen Lebensbedingungen. Nicht nur wechselte
ich meinen Aufenthaltsort, von Cochabamba nach Sucre, von Sucre
nach Potosi und schließlich nach Chile und Ecuador; sondern als
Ungeschulter, der mitten aus seiner Schulzeit gerissen war, glitt ich
auch von einer Beschäftigung in die andere: Ich war Maurer und
Elektriker, Hausierer, Kürschner, Fremdsprachenkorrespondent, Dol¬
metscher und Buchhalter. Die schwersten drei Jahre verbrachte ich
in den bolivianischen Zinngruben.*