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Aye Alavie
Schneekugel

Den syrischen Kriegsopfern gewidmet

„Vermissen Sie Ihre Heimat? Haben Sie Heimweh? Dann schreiben
Sie ihr etwas! Ihre wahren Gefühle! So macht man es auch mit
Menschen, die man vermisst. Glauben Sie mir. Es wird Ihnen
gut tun.“

Ich begann dir schon in der Arztpraxis zu schreiben. In mei¬
nem Kopf. In meinem Bauch. Mir fiel plötzlich auf, dass ich dir
auf Deutsch schreibe und nicht in meiner Muttersprache. Auf
Papier würde ich dir nie einen Brief schreiben, selbst wenn du
ein Mensch und kein Land wärst, könnte ich dir keine Briefe
schicken. Denn in dir gibt es beinahe keine einzige Straße, in die
man Briefe schicken kann.

Dich gibt es langsam nicht mehr. Dich machen die, die ein¬
mal innerhalb deiner Grenzen geboren wurden, zunichte. Die
in dir Verwurzelten entwurzeln dich. Dich gibt es nur noch in
zerstückelter, zerschlagener, zertriimmerter Form. Verstaubt und
verschwommen sieht man deine Straßen auf dem Bildschirm.
Keiner kann dich besuchen. Du bist gefangen in dir selbst. In einer
Staubkugel. Du bist in einer Kugel, die von einer mächtigen Hand
immer und immer wieder geschüttelt wird, sodass aus deinem
Boden immer von neuem Erde und Staub durch die Luft wirbeln.

„Verdammt sei der Bürgerkrieg“, Auchen alle, die es geschafft
haben, sich aus deiner schlammigen Erde zu retten. All die, die
nichts mitgenommen haben, außer sich selbst und ihrer Erin¬
nerung. Die, die in dir vergraben sind, sind vergessen. Stumm.
Samt Familie. Samt Verwandten. Der Rest ist verschwunden.
Vergangen. Verschollen. Im Schlamm. Zu Staub geworden. Unter
deiner rutschigen Kugelhaube. Die, die nicht geflüchtet sind, sind
gefangen. In dir: Verbunden. Verblüht. Verblutet. Verschmolzen
im Feuer. Die aus dir Verbannten innerhalb und außerhalb deiner
Grenze sind die, die sich verlaufen fühlen. Die in dir Verborgenen
sind die Vergrabenen. Wund in den Ruinen ihrer Häuser. Häuser,
die in ihre ursprünglichen Bestandteile zerfallen sind.

Durch das Fenster des Badezimmers leuchten verschwommen die
Lichterketten des Nachbarfensters. Ich sitze in der Badewanne
und umarme mich, soweit ich kann. Das Wasser wird immer
rosafarbener. Mir ist kalt. Das Wasser ist lauwarm. Ich lasse noch
etwas warmes Wasser in die Wanne und denke an meinen gestri¬
gen Arztbesuch. An die Wartezimmergespräche: Man kann sich
im Wasser entspannen. Mit Lavendel, sagte eine Patientin. Mit
Hibiskus, sagte die Patientin neben ihr. Am bestens wirkt Kaffee,
sagte ganz laut eine andere Patientin, die nervös strickte, mit einem
mehrfarbigen Faden etwas Langes, Breites, Viereckiges. Das, was
sie strickte, könnte zum Schluss ein großzügiger unangenehmer
Schal oder eine unzufriedene, dünne Kindertagesdecke werden.
„Betten, betten Sie am besten“, sagte ein Patient.

„Betten?“, fragte ein älterer Patient, „Oder beten?“

„Bei Gott! Betten!“, antwortete der ältere Patient.

„Also beten, meinen Sie!“, korrigierte ihn die Patientin.

„Ja, beten hilft mehr als Badewanne.“

48 _ ZWISCHENWELT

Betend sitze ich nun in der Badewanne. Nur Gott weiß, wo ich
bin. Einige sagen, ihr Gott ist der einzige. Der richtige. Oder der
richtigste. Dabei hat ihn noch keiner je gesehen. Außer Großmut¬
ter. Sie träumte mal von Gott. Im Schlaf trug sie eine Kette. Die
schenkte sie mir, bevor sie starb. Die Kette soll heilend wirken.
Oder magisch. Wunscherfüllend. Etwas von einem richtigen Gott
soll in dieser Kette gespeichert sein. Mit dem etwas Gott um den
Hals bete ich in der Badewanne.

Gestern war ein nasser Tag. Tagsüber kalter Regen. Später fiel
Schnee. Ich ließ meinen Schirm im Ständer am Eingang. „Schirm¬
ständer! Bitte keinen Müll einwerfen, danke.“ stand auf einem
roten Zettel darauf. Nach einer Weile kam ein älteres Paar he¬
rein. Die Frau ging zur Sekretärin und der Mann blieb neben
dem Eingang stehen und steckte seinen kleinen Regenschirm in
den Mülleimer. Schirmständer und Mülleimer waren aus ähnli¬
chem Metall und hatten eine ähnliche Form. Der Mülleimer war
nur etwas kürzer, hatte eine Mülltüte und keinen roten Zettel.
Schirmständer als Mülleimer und Mülleimer als Schirmständer.
Ich erinnerte mich an das Laborexperiment, in dem es um Tassen
geht. Viele Probanden hatten tassenähnliche Gefäße als Vasen
oder Schalen wahrgenommen. Wenn in einer Schale Kaffee war,
nahmen sie diese als Tasse wahr. Und wenn in einer Tasse Blumen
waren, betrachteten sie diese als Vase.

Der Inhalt macht aus einer Schale eine Vase und aus einer Vase
eine Tasse. Und die Betonung macht aus beten betten und aus
betten beten.

Unterwegs nach Hause schneite es leise. Ich dachte an Deutsch
als Fremdsprache. Und an meine Abschlussarbeit, in der es um
das Präfix Ver ging. Ich verglich die Verben, die mit Ver beginnen,
mit ihren lateinischen Übersetzungen: verlaufen, verkümmern,
verlangen, verlassen, vertreiben, verkürzen, verschleppen, vermis¬
sen... Das war nicht nur Teil meines Deutschstudiums, sondern
auch ein Teil von mir: Mein ganzes Leben in der Fremde ist mit
diesem Ver-Teil des Wörterbuchs verknüpft. Dieser besitzt alle
nötigen Wörter zur Beschreibung meines Lebenslaufes. Eines
Lebenslaufes, der mit dem Verb verlassen beginnt und mit dem
Verb verlaufen weitergeht.

Mein Kopf ist voller Buchstaben. Meine Träume voller Bücher.
Es liegt an den Buchstaben, die ich wie Nahrung zu mir nehme.
Im Traum war Großmutters Mund voller Bücher. Erst als sie
lächelte, sah ich, wie viele Bücher in zwei Reihen zwischen ihren
Kiefern waren. Jeder Zahn war ein Buch. Ich fand im Iraum mein
Buch, Deutsch als Fremdsprache, ganz vorne in ihrem Mund.
Der Umschlag des Wörterbuches war beinahe zerrissen. „Da tut
es weh, genau da“, Großmutter zeigte auf das Wörterbuch. „Da
putzt du vielleicht zu viel“, sagte ich. „Ja, ich benutze Zahnseide“,
sagte sie. Mir tat das Herz weh beim Anblick ihres Mundes. Die
Bücher waren dicht aneinander aus ihrem Kiefer gewachsen.
„Wie schwer sind deine Kiefer? Deshalb redest du so wenig.“
Sie schaute mich schweigend an. Es schneite. Seit wann gibt es
Schnee in meiner Heimat?

Ich legte auf die verkohlte Haut meiner Großmutter eine Hand¬
voll Schnee. Was für ein Naturwunder. Klimawandelwunder.