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Viel wichtiger ist: Nicht nur die Gesundheit der älteren Gene¬
ration ist gefährdet.

Manch einer lebt nicht lange genug, um eine Kindheit gehabt
zu haben.

Die Mutter, deren Sohn gestorben ist, greift zur Kalaschnikow.
Das ist vielleicht auch eine Art Emanzipation.
Auf schwarzen Gewändern sieht man das Blut nicht.
Das ist praktisch.
Weiße Taschentücher sind hingegen unpraktisch.
Touristen verzichten auf die Besichtigung des Landes.

Ich frage mich, ob es noch Liebespaare gibt, Menschen, die
Zeit haben, sich zu verlieben.

Immerhin bleibt noch Zeit, während einer Hinrichtung einen
Film zu drehen und ihn ins Internet zu stellen.
Das ist der Exporthit.
Niemand will mehr Geheimnisse.
Von früher wird trotzdem ungern gesprochen.
Manche denken sich ihren Teil.
Die Anwesenden sprechen immer nur über die Abwesenden.
So oder so — man wird immer zu nah getreten.
Juckt’s?
Amerika ist keine Apotheke.

Unter einer absolutistischen Regierung ist scheinbar auch der
Widerstand absolut.

Differentialrechnung ist nur dann interessant, wenn man etwas
differenziert betrachten können muss.

Auch deshalb werden die Kinder nicht mehr zur Schule ge¬
schickt.

Und weil sie sterben könnten beim Versuch, gebildet zu werden.

7.

Jeder weiß, dass es so nicht weitergehen kann.
Man fragt sich, ob sich ein Eingriff von außen überhaupt lohnt.
Wie bei einem todkranken Patienten, von dem man glaubt, dass
er sowieso bald an seinen Verletzungen sterben wird, oder von
dem man befürchtet, er könne während der Operation verbluten.
Niemand will verantwortlich sein.
Auf dem Höhepunkt der Gefahr muss man dem Gegner nicht
in die Augen schauen.
Man möchte lieber wissen, wo die Frauen ihre Haare verstecken.
Genäht werden Gewehre.
Aber was am meisten produziert wird, ist Schweiß.
Zwei Sekunden können entscheidend sein.
Dann geht es von vorne los mit den nächsten zwei Sekunden.
„Unschuld“ gehört zur selben Wortgruppe wie „Unfug“ und
„Ordnung“.

8.

Komisch!
Reporter wissen nicht, was sie tun.

Politiker warten auf den Einbruch der Wirklichkeit.

Früher wussten nur Kinder alles besser, aber Verhältnisse ändern
sich, wenn die Oberfläche schrumpft.
Wer als Erster schweigt, kann als Erster lächeln.
Ich habe Angst vor Flughäfen.
Sie verringern die Entfernung.
Immerhin weiß man jetzt, wo Syrien liegt.

Es liegt zum Glück weit genug weg, was die Leichen jedoch
nicht daran hindert, hierher zu kommen.
Dann liegen sie vor europäischen Stränden.

Wenn sie’s nicht lebend aus dem Wasser schaffen, bleiben die
Leichen verschwunden.

Der Wind ist groß und warm, aber heute zieht kein Mädchen
den Bauch ein oder glättet den Rock.

Vor keinem Schaufenster zieht niemand keinen Kamm aus
keiner Tasche.
Das sind Kleinigkeiten.

Wenn eine Frau gesteinigt wird, will kein Stein unter einen
anderen passen.

Es gibt kein Küchenfenster mehr, aus dem die Mutter heraus¬
schaut und die Tochter oder den Sohn beim Spielen beobachtet.

10.

Der vom Sonnenuntergang rot gefärbte Strand verschwindet in
der Dunkelheit.

Die Tänzerinnen sinken erschöpft und glücklich in ihre Betten.

Ihre Füße schmerzen, aber sie schenken den Schmerzen in den
Füßen keine Beachtung.

Auch am nächsten Morgen ist der Strand rot.
Rot vom Blut.
Die Tänzerinnen tanzen nicht mehr.

Sie flichen und singen nicht mehr: ,, Have you, as I did, slept on
the grass at night / And used the sky as your blanket / Ascetic in what
will come / Forgetting what has passed“. *

Der Schmerz in den Füßen ist unerträglich, aber er ist nicht
das Unerträglichste.

Ich sehe die rote Farbe verschwinden, die Dunkelheit verschwin¬
den, den nächsten Tag verschwinden.

Auch dieser Krieg wird irgendwann aufhören.

Ich hoffe, man wird sich dann daran erinnern und sagen:

Syrien ist schön.

“Aus dem Lied ,, Bring me the flute and sing“ von Fayruz

Afamia Al-Dayaa, geb. 1985 mit syrischen und südkoreanischen
Wurzeln, lebt in Wien. Studium klassisches Klavier in Trossingen,
Brüssel und Wien sowie Sprachkunst in Wien. Letzte Veröffentlichun¬
gen: vor dem schnee (und andere gedichte) in: Reisen. Rasen. Rasten.
(2015, edition w2, Wien). inzwischen das meer in: Lyrik von Jetzt
3 (2015, Wallstein Verlag, Berlin).

Dezember 2015 47