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Alexander Emanuely
Die Grenzstation

(Ein Albtraum aus dem Jahr 1992)

Wende den Blick zu den Leichenhiigeln, Betrachter der Zeitgeschichte,
halte nur einen Augenblick inne und denke, dieser arme Rest von
Fleisch und Bein sei Dein Vater, Dein Kind, Deine Frau, sei der
Mensch, der Dir lieb ist! (Eugen Kogon, 1964)

Kommandant Orel verhehlte nicht sein Mißfallen daran, daß
nur ein Inspektionssekretär und nicht der Minister persönlich
gekommen war, und legte sicherlich auch deshalb eine gewisse
Ablehnung gegen mich an den Tag.

„Ich wollte den Minister selbst sprechen und nicht einen seiner
Sekretäre. Es ist nichts gegen Sie, nur glaube ich, daß Sie nicht
genügend Sensibilität meinem Projekt gegenüber zeigen werden.“

„Ich habe alle notwendigen Vollmachten, und der Bericht wird
ohne Kommentar an den Minister weitergeleitet werden.“

Unbeeindruckt bot er mir eine Erfrischung an, und alsbald be¬
traten wir an diesem schwül-heißen Sommertag mit prallgefüllten
Gläsern das übergroße Zollgebäude, wo selbst krächzende Ventila¬
toren an niedrigen Zimmerdecken keine Kühlung brachten, und
nur Orels alles durchdringende Blicke versprachen eine gewisse
Kälte. Endlich entdeckte er einen scheinbar nachlässigen Beamten,
den er trotz der alles ähmenden Hitze wild zusammenzuschreien
wußte, bevor er sich beruhigter und gelöster zu mir wandte.

„Ich hatte nur lächerliche sechs Monate Zeit, das Projekt zu
starten ...“

„Wie jeder Ihrer Kollegen.“

Er winkte beleidigt ab. „Das sind doch alles nur Waschlappen.
Sie werden schen, daß meine Methode trotz der spärlichen Un¬
terstützung und der kurzen Zeit die effektivste von allen ist und
sicherlich die besten Chancen für seine Durchsetzung finden wird.
Falls mein revolutionäres Projekt Anerkennung findet, könnten
Staat und Gesellschaft sogar an der ganzen Problematik verdienen,
also doppelt profitieren.“

„Daß wir an illegalen Flüchtlingen verdienen sollen, spricht
für Sie.“

Je näher er zur Erklärung seiner Arbeit kam, desto konzent¬
rierter wurde sein sonst schon verbissenes Gesicht. Gemächlich
schlenderten wir in ein geräumiges Zimmer, einige scheinbar
mit Dünger prall gefüllte Säcke lagen gestapelt in einer Ecke,
und endlich holte Orel mit weiten Gesten zur Erklärung seines
Projektes aus.

„Wie Sie wissen, sind die meisten Illegalen nicht mit Perso¬
nalpapieren ausgestattet. Es gibt also nichts, was ihre Existenz
bestätigt oder beweisen läßt. Ein Illegaler ist demnach nicht nur
unerwünscht, sondern nachweisbar nicht existent. Es gilt daher
auch kein Gesetz für ihn bzw. kann gar keines für ihn gelten.
Mein Projekt basiert auf dieser Tatsache. Der Auftrag der Regie¬
rung war, einen Weg zu finden, welcher uns am effektivsten von
diesen Unrettbaren befreit. Die sind von vornherein zum Tode
verurteilt, in ihrer Heimat und bei uns. Dort wie hier würde man
ein Verschwinden dieser Leute begrüßen und schnell vergessen.
Außerdem haben die alle keine Papiere, existieren also eigentlich
nicht einmal.“

56 ZWISCHENWELT

Der nächste Raum, den wir durch eine Panzertür betraten, war
hermetisch abgeschlossen, und in der plötzlichen Kälte standen
einige mit vor Gift warnenden Aufschriften verschene Fässer he¬
rum. Die Kälte dieses Raumes erfrischte meine abgestumpfte
Konzentrationsfähigkeit, welche unbedingt nötig war, um den
Erläuterungen Orels zu folgen, der inzwischen in einen einige
Meter langen, immer tiefer ins Erdreich führenden Gang stieg.
Ein säuerlicher Geruch lag irritierend in der Luft, und aus der
Tiefe stieg ein rhythmischer, maschinenhafter Lärm auf.

Wir kamen zu Zellen, in welchen Flüchtlinge eingesperrt
waren, und erschrocken gelangte ich schnell zur Überzeugung,
daß unter normalen Umständen in solch einer Zelle höchstens
fünf Menschen Platz gehabt hätten, hier jedoch knapp fünfmal
so viele hineingepfercht waren, auch stank es unerträglich nach
Urin, Exkrementen und nach verfaulendem Fleisch, als ob die¬
se Unglücklichen seit Tagen, wenn nicht Wochen eingesperrt
waren, ohne jemals aus dieser Bedrücktheit, aus dieser Hölle
herausgelassen worden zu sein. Durch einen kleinen Schlitz in
der Stahltür konnte ich schen, wie sie wie ein kaum bewegbares
Knäuel aneinander gepreßt waren, niemand sprach oder schrie,
nur unverständliches Stöhnen war zu hören und nach der knappen
Luft ringendes Atmen, irgendein zitternder Finger kam plötz¬
lich aus dem Dunkel der Zelle der Licht spendenden Öffnung
entgegen, und wäre keine Glasscheibe gewesen, hätte mir dieser
halbe Knochen das Auge ausgestochen, ein Schlag ging durch
meinen Körper.

„Hier unten sind ungefähr hundert Leute in den paar Zellen
eingesperrt. Ich hatte mit ihrer Verrottung bis zum Erscheinen des
Ministers gewartet, um ihn von der Genialität meiner Lösung zu
überzeugen, naja. Die Säuglinge befinden sich nicht mehr hier,
sie zur Adoption freizugeben ist nicht nur humaner, sondern
auch schr profitabel. Ihnen scheint mein Werk nicht besonders
zu gefallen, Ihre Sentimentalität ist hier aber fehl am Platz.“
„Was ... Verrotten?“

„Verrotten heißt verrotten, spielen Sie nicht mit meiner Geduld,
trinken Sie Ihr Wasser und schauen Sie zu, erfüllen Sie einfach
Ihre Pflicht als Sekretär! Bevor Sie aber weiterhin den erstaunt
Erschrockenen spielen, möchte ich eines klarstellen; ich morde,
Sie sind jedoch der Mörder. Warum glauben Sie, daß Sie so sorglos
ihr Glas Wasser in einer wasserknappen Welt trinken können und
überhaupt, warum glauben Sie, hat man einen Minister gewählt,
der mein Projekt angeregt hat; warum wohl?“

„Verrotten? Was ... Was geschieht hier?“

„Dumm und sentimental, wie konnten Sie nur Inspektions¬
sekretär werden? Glauben Sie, daß ich diese Leute wie Tiere zu¬
sammenpferche, um sie wieder laufen zu lassen? Die endgültige
Lösung für sie kann selbstverständlich nur der Tod sein. Besser
formuliert und medienreifer heißt es natürlich, daß diese Leute
in ihren realen Zustand der Nichtexistenz versetzt werden. Wenn
Sie jetzt bitte wieder in die Zellen blicken, das Verfahren setzt
sofort ein.“

Das spärliche Licht ließ nur erahnen, was plötzlich hinter diesen
Stahltüren geschah. Ein Rauschen wie das eines Wasserfalles,