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Wer bist du

dass dein Schlaf

jeden melodienträchtigen Morgen
durch hoch fliegende Schwalben

in Verwirrung endet.

Wer bist du,

dass du dich vor jedem Gesang fürchtest
und jede leidenschaftliche Bewegung
dich beunruhigt.

Wer bist du,
dass du immer wieder
die Liebe tötest.

Welche Sippe hat dich hervorgebracht
dass dein Atem

modert wie altes Teichwasser

und deine brüchigen Kleider

an schwarze Jahrhunderte erinnern

Gloria Kupsch

Zeit und Inhalt
überwintern

Und es setzt auch einen Anfang für eine ungefähre persönliche Vorstel¬
lung von der Zeit, deren Wichtigkeit auch einem jeden bekannt ist:
So beschließen ja die meisten von uns oder akzeptieren es zumindest,
sie fortwährend am Leib zu tragen, in mehr oder weniger leserliche,
manchmal sogar fluoreszierende Zahlen zerteilt, mit einem Armband
am Handgelenk befestigt, öfter am linken als am rechten.

Jean Echenoz — Blitze

Vor ungefähr einem Jahr verließ ich meinen Stammgemüsetürken
mit schwer nach unten ziehendem Plastik voll Auberginen, Zuc¬
chini und haufenweise Tomaten, die nach mehr schmeckten als
nur Wasser. Unter dem gelben Sonnenschirm neben dem Eingang
stand eine für Friedrichshainer Verhältnisse edel gekleidete Frau,
im beigen Trenchcoat, eine teure Handtasche in der Armbeuge,
in Leinenhose und dunklen Ledersandalen. Ihre Fußnägel waren
schwarz lackiert und passten zum Haar, das sie lang trug. Insge¬
samt sah sie nach Urlaub aus, nicht nur aufgrund ihrer arabischen
(tippte ich) Herkunft. In der Hand hielt sie eine Dose Red Bull.

„Ich muss fünf Minuten mit dir reden.“
„Ich? Äh. Wieso?“
„Interessiert dich deine Zukunft?“

Ich drehte meinen Oberkörper bereits in Gehrichtung, einem
städtischen Automatismus folgend. „Ich hab kein Geld mehr.“
„Du gibst, was du geben willst. Ich kann schen, was dir be¬
vorsteht.“
Ok, dachte ich. Immerhin könnte das eine gute Geschichte
ergeben. Warum nicht?

Wer bist du
Verrufenster aller Verrufenen!

Händezittern

Emsig werkt das gefürchtete, angerostete Beil
und die Vöglein der Rede stürzen ins Blut

Tropfen um Tropfen besudelt
den verwirrten Minuten

Rock und Hände

Ich stehe im Ausklang der Abenddämmerung
Die Arme meines Fensters
sind ausgestreckt in die Dunkelheit

Meine Hände zittern davor

in dieser Angstnacht,

dass die tosende Überschwemmung
ins Innerste meines Hauses dringt

Vorsichtig stellte ich meine Tüten auf den heißen Asphalt und
war unsicher, was nun folgte. „Soll ich dir meine Hand geben?
Oder was erzählen?“

„Nein, ich sch schon alles.“ Dann begann sie zu sprechen, blickte
mir dabei in die Augen und ratterte Informationen hinunter.

Du wirst zwei gesunde Kinder vor Gott haben.

Du hast zwei Lieben, einer von beiden weiß es nicht und er ist
sehr weit weg im Moment.

Du wirst es immer ein bisschen schwer haben, wirst immer sehr
weit vorgehen und dann weit zurückgeworfen werden. Geld ist in
deinem Leben nicht wichtig, es wird kommen, aber nicht so viel.

Zwei Leidenschaften bestimmen dein Leben, du kannst dich nicht
entscheiden.

Ich muss dir leider sagen, jemand aus deiner Familie ist ein biss¬
chen krank.

Du wirst eine Reise machen, nicht allein, und dabei wirst du eine
Überraschung erleben, die dich erfüllt.

Jemand ist da, dem du alles erzählen kannst, der ist ein echter
Freund, dem kannst du dein Herz ausschütten.

Schatz, es tut mir leid, jemand hat dein Geheimnis verraten.

Ich kann sehen, deine Seele und dein Herz sind noch traurig, du
wurdest stark verletzt.

Aber du bist stark und wirst deinen Weg gehen.

Du bist jetzt ein anderer Mensch als früher, jetzt viel ungeduldiger.

Überall, wo du hingehst, bist du sehr beliebt, du hast einen sehr
großen Freundeskreis.

Während sie sprach, korrigierte ich sie in Gedanken und relativierte
Aussagen. Erinnerte mich daran, dass der Großteil für jeden gelten

Dezember 2015 61