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besitzen. Second life passiert längst, auch ohne detailliert ausge¬
statteten Avatar.

Als ich diesen Winter zu viel Zeit allein mit Gras umwickelte,
sah ich mir oft eine amerikanische Frau auf YouTube an, die
Torten backt. In Echtzeit.

Time isn't wasted when you're getting wasted.

Besonders in Erinnerung blieb mir ihre „Red Velvet“-Torte, für
dessen Geschmack sie Ketchup verwendet, wobei für die krasse
Färbung zusätzlich noch Lebensmittelfarbe nötig ist. Bürgerlich
klischiert trägt sie gemusterte Schürzen, die über dem Bauch
spannen, während sie um ihre Kücheninsel läuft. Die Zutaten
stehen in kleinen Glasschüsseln bereit. Sie spricht immer frontal
und im Plural in die Kamera. Wir rollen den Teig dünn aus. Wir
rühren langsam, aber stetig. Wir conchieren Schokolade, damit
sie nachher schön glänzt. Wir lassen keinen Boden vertrocknen.
Wir backen den Favorite des Kleinsten, er hat heute Geburtstag.
I dont know. I am on marijuana time.

George, Bored to Death

Fressen und Schlafen, fressen und schlafen. Sei zu fett oder sei zu
diinn, fiir normal oder zufrieden gibt es hier keinen Thread, du
bist auf der falschen Seite. Ahnlich wie kein Porno Penetration
ohne Geschrei und Gespritze zeigt: Zuriickhaltung kennt keine
Zuschauer, sie kriechen auf dem Bauch unterm Zirkuszelt hervor
und treten die schlafenden Raubkatzen, damit was passiert.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, ich schreibe nicht. Ich sitze an
meinem Schreibtisch, immer wieder. Nur Schreiben, tu ich nicht.

Selbst in unserer Zeit sind gewisse Neigungen und Wünsche, die
einst zum Überleben notwendig waren, schon zur Quelle ständiger
Fehlschläge geworden. Physischer Mut und Kampflust zum Beispiel
sind für den zivilisierten Menschen keine große Hilfe— können sogar
Hindernisse für ihn sein. Und in einem Zustand materieller Ausge¬
glichenheit und Sicherheit wäre physische oder intellektuelle Gewalt
nicht mehr am Platze. (...) Für ein solches Leben sind diejenigen, die
wir als schwach bezeichnen würden, genauso gut ausgerüstet wie die
Starken, sind nicht mehr schwach. Sie sind sogar besser dran, denn
die Starken würden von einer Energie verzehrt werden, für die sie
keine Verwendung hätten.

H.G. Wells — Die Zeitmaschine

Einer meiner Lieblingsblogs heißt Dailykitten, täglich werden
hier, man ahnt es: Bilder von Tierbabys hochgeladen. Sie sind
hilfreich, will ich mich ablenken oder Wut dämpfen. Wut, die
diffus, aber oft in mir ist.

Bescheuert sein ist jetzt cool, Nerds sind das, was früher in
großen Hosen in der Raucherecke lungerte. Wer kein Geck ist,
hat in Foren nichts mitzureden.

Die Kombination der eigenen Macken macht erst individuell,
zu einem erkennbaren Menschen, der Möglichkeit zur Unter¬
scheidung bietet. So sammeln wir Tätigkeiten und Erfahrungen,
die wir online auflisten, denn nur Geteiltes ist Wahres, das Foto
sowohl Beweis als auch Bewertungsgrundlage:

Pics or it didnt happen.

Wo derjenige Recht hat, der mit dem schnellsten und glattesten
Kommentar punktet, wo Daumen Anerkennung spenden und
eine scheinbare Crowd im Riicken bilden: Hier sammeln wir

vermeintliche Charaktermerkmale und Erlebnisse, bunt aufgelistet
in unserer Timeline, wie Pfadfinder Abzeichen fiir die Cargo¬
Weste, die uns in der Wildnis hilft. Doch die Taschen sind leer
und der Stoff mangelhaft. Die Poren verstopfen unter Polyester.

Mittendrin bin ich, versuche nicht, mich herauszunehmen. Will
nicht meine „Generation“ ankreiden — was bedeutet dieses Wort?
Ich schwimme in Blogs und lustigen Bildchen umher und bin
bestens informiert, wo welcher Shitstorm losbrach, welches Meme
ganze Paletten an Emotionen ersetzen kann und welches Interview
in einen Rap-Song umgewandelt wurde.

Ich steh da drauf. Und frage dennoch nach dem Inhalt dieser
Zeit. Vielleicht ist die ostdeutsche Arbeitermentalität zu tief in
mir eingegraben.

Stell Sinnvolles mit deiner Zeit an.

Wie das? Wie kann ich schlecht oder gut nutzen, was unendlich
ist? Kann ich nicht großzügig sein mit ihr, sie verschenken, nicht
als Richtung betrachten, zur Seite schieben und noch immer wäre
nichts vergeudet? Wie wäre das Empfinden meiner Tage, würde es
absolut ausgeschlossen, dass irgendwann jemand nach dem Blick
auf sein Armende sagt: „Oh, es ist schon 17 Uhr.“

Die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie besitzen Lösun¬
gen, die Zeitschleifen zulassen. Voraussetzung wäre eine hinreichend
starke Krümmung der Raumzeit durch gewaltige Materiemassen.

Fernando de Felice— Naked Singularities, Cosmic Time Machines
and Impulsive Events

Was. Ware. Wenn. Diese gewaltigen Materiemassen Menschen
sind?

Jeder vierte Amerikaner hat Maße angenommen, für die die
Natur keine Verwendung kennt. Australien, England und Mexiko
holen gerade auf im Wettlauf ums Fett. Keine Vorteile bietet die
zerfließende Form eines menschlichen Körpers. Fast Food wurde
ursprünglich als familienfreundlich angepriesen. Da Einkaufen
und Kochen wegfielen, sollte man die eingesparte Zeit mit den
Liebsten verbringen können.

Wir mischen Stoffe in Plaste, das wir Essen nennen, und wun¬
dern uns über die schillernde Palette an Tumoren, Krebsen und
psychischen Störungen. Industriekrankheiten nennen wir das,
dabei sind wir doch die Krankheit. Wir sind ätzende Parasiten,
die mehr wollen. Ein Weißbrot hat drei Wochen weich zu bleiben,
wenn man dafür Wirkstoffe aus einer giftigen Alge und Auszüge aus
Menschenhaar benutzt, ist dies raffiniert im Sinne des Fortschritts.
Mehr, weil mehr geiler ist. Dann ist auch Mengenrabatt möglich.

Somit hat sich die erhabene Spezies, die es geschafft hat, der
Nahrungskette zu entkommen, selbst verdammt: Wir haben keine
Fressfeinde mehr und schaffen es dennoch, die Welt geteilt in
zwei Hälften verenden zu lassen: Die einen ohne, die anderen an
Nahrung. Beides schleichend und schmerzhaft. Übergewicht hat
das Rauchen als Risikofaktor Nr. 1 für Krebs abgelöst. Zusatzstoffe
lösen Migräne aus und lassen hibbelig werden, Vitamin D-Mangel
ist der Hauptgrund für Depressionen in westlichen Ländern, unser
"Trinkwasser macht unfruchtbar und lässt Männern Brüste wach¬
sen, da Verhütungspräparate einnehmende Frauen mittels Urin¬
abgabe den Hormongehalt im Grundwasser ansteigen ließen und

Dezember 2015 63