OCR Output

Entzündungen. leblos geworden. ausgehöhlt
von einer Abwesenheit.

Das Leben ist wie eine Flüssigkeit. Ohne Hoff¬
nung stockt sie und verliert jedes Licht. (S. 10)

Man folgt dem Begreifen, das doch nie Begrei¬
fen werden kann und anfangs nicht akzeptieren
kann, bevor es nicht begreift. Es gibt einen Zug,
einen Horizont in uns, der nie etwas begrei¬
fen will, keine Ablehnung, kein nicht haben
können, keine Unerreichbarkeit, kein nicht
vorhanden sein.

Wie ein Wandteppichbericht, statt wirklich
den Kampf zu zeigen, schreitet das Buch zu¬
nächst voran in seinen weit ausholenden und
doch sehr auf sich zurückgezogenen Sätzen.
Es wird wenig Kontakt mit dem Leser gesucht
und sehr viel Kontakt mit sich selbst, mit dem,
was noch zu der Sphäre der Unfassbarkeit und
Verlassenheit hinzugefügt werden kann oder
muss. Ein Prozess des Protokolls, des Berichtes
von Veränderung und Zustand wird angestrebt,
kann aber keiner Konsistenz unterworfen wer¬
den; der Protagonist ist aus sich selbst heraus
in eine Opferrolle hineingeworfen, der Stelle
des Ich entrückt, auf die er sich nicht mehr zu¬
rückziehen kann.

Ich tat mich schwer mit diesem Kreisen um
den Stillstand, die Apathie, die ganz besondere.
Aber es war auch nur der Anfang, das, was man
im Text als Erstes antrifft und was sich später zu
kleineren Regungen verdichtet.

Es kommt einer Vermessenheit gleich, zu be¬
werten, ob jemand gut über den Tod und die
Trauer schreiben kann. Schreiben verlässt hier
die Gefilde von Erfahrungen, die wir zu machen
wünsch(t)en oder gemacht haben. Man kann
kaum den Ausdrucksgehalt bewerten, ohne auch
die Gefühle der Trauer, die in ihm Gestalt zu
werden versuchen, mit zu bewerten; es ist auch
heikel ein solches Werk zu schreiben, denn wa¬
rum sollte ein Schriftsteller an etwas teilhaben
lassen, was nur er und die ihm Nahestehenden
allein zu bewältigen hat. Aber ist Hermanns
Werk ein Bewältigungsbuch?

Nein, denn es geht in diesem Buch nicht wirk¬
lich um das, was an Simmungen zu überstehen

ist, was überwunden werden muss — zumindest
gelingt es Hermann kaum, das auszuformulie¬
ren, auch wenn er einige Versuche unternimmt.
Doch diese bleiben ein Ausmanövrieren, ein
Verortungsformulieren, die Suche nach einem
Platz, einem Punkt, von dem aus man im Ton
eines vom Tod des eigenen Sohnes Verheerten
sprechen, schreiben kann. Ein Ort, der nicht
gefunden werden kann, es gibt ihn nicht, oder
besser: Es gibt ihn schon, aber man gelangt an¬
ders dort hin. Es kann nicht um das gehen,
was Überwindung heißen würde, sondern um
das, was bleibt.

Überwindung, beinah das schwierigste Wort
in diesem Zusammenhang. Sie wird gerne als
Symptom oder sogar als Mittel zur Heilung
ausgewiesen und doch: Steckt darin nicht ein
Vergessen, ein Sich-entziehen? Kann solcherlei
gelingen bei einem so schlimmen Verlust und
würde dabei nicht noch mehr verloren gehen,
vielleicht sogar alles, was die Trauer noch zu
retten, zu wahren versucht?

Natürlich lässt sich Verlust nicht in dem Sinne
überwinden, dass man glauben könnte, er hätte
nie stattgefunden. Aber Überwinden muss nicht
bedeuten, dass einen Verlust und Trauer nichts
mehr angehen, sondern nur, dass sie nicht mehr
alles sind; nicht mehr der zentrale Punkt, um
den man einfach nicht herumkommt. Das ist
méglich, ja geradezu unvermeidlich — was auch
Hermann am Ende des Buches anklingen lässt
und beschreibt, dass dieser Prozess wiederum
eine neue Art von Schmerz bedeutet. Wenn
nämlich die lähmende Trauer nicht mehr in
jeder Richtung im Weg steht, diese schmerzende
Trauer, die noch die sicherste Verbindung zu
dem Toten zu sein schien, entsteht wieder Angst:
eine Angst vor dem Verlust der Gefühlsanbin¬
dung, der vom Wesen der Person durchdrunge¬
nen Erinnerung. Auch im Überwinden entsteht
also wieder ein Abgrund, in den es zu schauen
gilt. Ich betone das Wort Überwindung daher
nicht rühmlich, sehe es auch weniger als eine
Handlung, sondern nehme es her, um den Pro¬
zess zu beschreiben, in dem man dahinkommt,
mit dem Schmerz in sich zu leben und ihn nicht

Ein schönes und wichtiges Buch über Selma
Merbaum und ihre siebenundfünfzig Gedichte.
Vervollständigt und komplettiert hat die Auto¬
rin dieser Biographie das kurze achtzehnjährige
Leben der jungen Dichterin. Die Prosa der Bio¬
graphie passt zu den berührenden, ergreifenden
Gedichten von Selma, dem Schulmädchen in
Czernowitz. Marion Tauschwitzs Begegnung
mit Selma Merbaum ist eine literarische. Selmas
Gedichte interpretiert sie mit Begebenheiten
und Begegnungen. Sehr spannend, teils auch
mit Vermutungen erzählt die Autorin uns das
bescheidene Leben der jungen Dichterin. Sie
bietet wunderbare literarische Darstellungen der
bukowiner Landschaft, historische Erklärungen

dieses Kronlandes der einstigen Donaumonar¬
chie am Rande der Ostkarpaten. Tauschwitz
hat sich in die Landschaft begeben, die Stadt
Czernowitz durchstreift, den Duft von damals
aufgesogen, in verschiedenen Ländern und Ar¬
chiven sorgfältig recherchiert, hat Zeitzeugen
aufgespürt und erzählen lassen, die Gedichte
redigiert und Fehler korrigiert.

Mit Selma und ihren Freunden aus der zionisti¬
schen Jugendbewegung „trifft“ sich die Autorin
im Cecina-Wald, begleitet sie ins Hofmann¬
Gymnasium und nach Hause in die Bilaergasse,
später ins Todeslager nach Transnistrien. Sie,
die Schülerin schreibt heimlich Gedichte unter
der Schulbank, die später nach dem Zweiten

in allem verkörpert zu schen, was einen umgibt;
wenn die Erinnerung und der Schmerz in eine
Stelle im Herzen einziehen und es nicht bei jeder
Gelegenheit, jedem Anblick, herausreißen, zum
Stillstand bringen wollen.

Es bleibt nur die Erinnerung, nur das Andenken,
nur der innere Raum, den mir keiner nehmen
kann. Den mir keiner nehmen kann? Wurde nicht
durch den Einbruch der Katastrophe in mein Le¬
ben mein innerer Raum erdrückt? (S. 61)

Es gab kein Warum mehr. (S. 20)

Was bleibt. Eigentlich gibt es keine andere
Möglichkeit, als sich dem Text über dieses Ge¬
fühl zu nähern, sich der Suche nach dem Kostba¬
ren, was noch erzählt und erinnert werden kann,
anzuschließen. Und so sind die gelungensten
Stellen jene, in welchen zurückgeblickt wird und
in denen nach vorne geblickt wird; weil man
hinter diesen Darstellungen tief empfindend
ahnen kann, was hier geschildert werden soll,
was sich hier ballt, und diese Momente sind es,
die das Buch zu einer nicht von der Hand zu
weisenden Erfahrung machen, mit einer Rinde
aus Weisheit, mit einem Rauschen der Nähe und
dem, was uns sonst noch verbindet, wenn wir
gemeinsam etwas teil(t)en.

Seit ich im Schacht war spüre ich den Wert des
Lebens. Ich spüre die Menschen um mich, ich
sehe ihre Zerbrechlichkeit. Jeder von ihnen ist ein
Kampf gegen die Kälte, den Tod. (S. 101)

Timo Brandt

Wolfgang Herrmann: Abschied ohne Ende. Miin¬
chen: Langen Miiller 2012. 128 S. € 13,¬

Timo Brandt wurde am 13.02.1992 in Düs¬
seldorf geboren und wuchs in Hamburg auf. Seit
2014 Studium am Institut für Sprachkunst an der
Universität für angewandte Kunst Wien; seit 2015
Mitherausgeber der JENNY Literaturzeitschrift.
Veröffentlichungen in JENNY, Bella Triste und ei¬
nigen Anthologien, Preisträger beim Treffen junger
Autoren 2013 im Rahmen der Berliner Festspiele.

Weltkrieg, nach dem ’Iod von Selma, quer durch
Europa nach Israel gelangten und inzwischen zur
Weltliteratur gehören. Iris Berben, die hochen¬
gagierte Schauspielerin und Künstlerin, hat ein
Vorwort geschrieben und bei der Vorstellung des
Buches in Berlin im KulturKaufhaus Dussmann
Gedichte von Selma Merbaum einfühlsam ge¬
lesen und Passagen aus dem neu erschienenen
Buch.

Christel Wollmann-Fiedler

Marion Tauschwitz: Selma Merbaum. Ich habe
keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Biografie
und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben.
Springe: Zu Klampen 2014. 350 S. € 28,¬

Dezember 2015 75