Der Roman Der mühevolle Weg ist ein lyrisches Buch, und die
Frage, die sich daraus ergibt, ist in der Tat, ob die lyrische Grund¬
haltung, die den Roman kennzeichnet, ihrerseits eine historische
ist. Die Lebens- und Arbeitsauffassung, der der Verfasser nach dem
Beispiel Flauberts bisher nachgegangen ist, wird ja von Tag zu Tag
fragwürdiger. Zwangsläufig tritt hier die Frage auf, welche Aufgabe
der Schrifisteller in der heutigen Zeit erfüllen soll. Flauberts lart pour
lart ist in seinen realistischen Romanen nur bedingt wirksam; und
womöglich steht Hemingway heute Flaubert jenseits der Barrikade
gegenüber.
Goetz Mayer, 12. August 1941
Anna verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre ihr kalt, und
sagte stockend: „Die neue Generation —.“ Sie nickte eifrig. „Wir
denken hier viel zu wenig daran. — Dabei darf man sich über die
Jugend in Deutschland, die nichts anderes kennt, nicht einmal
wundern. Wir bezweifeln ihre Begeisterung nicht — und lachen
auch nicht darüber. Wir fürchten uns eher davor, weil wir fast
keine Möglichkeit haben, diese Jugend zu erfassen — weder von
hier noch von dort aus. Die Rechnung dafür wird womöglich
sehr hoch sein.“
„Hoffnungslos — gibst du zu — und machst weiter!“
„Ich habe nicht gesagt hoffnungslos. Denn nichts zu machen,
weil eine Situation kritisch ist, anstatt alles, um die Lage zu än¬
dern, ist erbärmlich.“
„Was soll das bedeuten?“
„Außerdem — drüben die Jugend zu erfassen, ist eine Aufgabe.
Es gibt aber mehr —.“
„Also ich mache nichts —- um die Lage zu ändern... Schön;
ich bin erbarmlich — wenn du’s behauptest, wenn du es willst —.“
„Hörst du denn nicht, was ich sage?“
„Zu genau, wie mir scheint!“
„Und lasse mir trotzdem alles gefallen.“
„Ich wüßte nicht, was du nötig hättest, dir gefallen zu lassen.“
„Warum, weiß ich selbst nicht. Du erlaubst dir einen Ton!“
„Ich sage bloß, was ich denke — was ich weiß —.“
„Aber wie du es sagst! Aber wie!“
Jemand ging durch den Garten, unter dem Fenster vorbei; man
hörte die Schritte, die sich entfernten. Dann knackte ein Ast,
dann raschelte das Laub.
„Marx —“, sagte Anna zögernd. „Er war kein Psychologe - viel¬
leicht nur, weil es damals keine psychologische Wissenschaft gab.
— Und Freud? Wir wissen seit ihm erst, wie schwer es eigentlich
ist — und warum — —.“
„Deshalb waren unsere Theorien alle falsch!“ sagte Wolf.
„Alle waren nicht falsch. Außerdem, wenn Ergebnisse falsch
sind, liegt es oft an den Menschen, die die Theorie angewandt
haben. Der Fortschritt ist ja beweisbar. - In Rußland wurde der
Anfang zum Guten gemacht —.“
„Weil der Faschismus dort ein umgekehrtes Vorzeichen hat?“
„Ich verbiete dir, so über Rußland zu sprechen!“
„Sehr vertrauenserweckend für den russischen Zustand“, sagte
er böse.
Nach einer Weile nahm er das Gespräch wieder auf: „Wenn es
ein Fortschritt sein soll, daß man nur zwei Stunden braucht, um
nach London zu fliegen —.“
„Daf man in zwei Stunden — ich weiß nicht wo sein kann“,
fiel ihm Anna ins Wort. „Daß der Fortschritt zum Privileg wird,
liegt wieder an dieser Gesellschaft. Denn sogar die Verkürzung
der Entfernungen könnte dem Wohl der Völker —.“
„Wohl der Völker ist jedesmal Wohl einer Schicht —.“
„Und wenn diese Schicht die Mehrzahl derer, die arbeitet, ist
oder sie vertritt? Ich bin für die Herrschaft dieser Schicht, für
Diktatur, wenn du das Wort hören willst. Sind einmal andere
Menschen vorhanden, brauchen wir keine Diktatur mehr. Aber
andere Menschen zu schaffen, ist ohne sie unmöglich. Du hast
recht, daß die kapitalistische Demokratie ein Verfall ist. Die Men¬
schen werden schlechter unter ihr, denn das System ist verlogen
— daß du mitschuldig bist, wenn es dann Krieg gibt —.“
„Als ob ein Einzelner eine Lawine aufhalten könnte — einfach
blödsinnig!“
„Erstens — „, sagte Anna. „Der Krieg ist keine Lawine, die plötz¬
lich anfängt zu rollen — dein Naturgesetz, nicht? Sondern der Krieg
wird gemacht. Zweitens: Ein Einzelner kann ihn nicht verhindern,
viele Einzelne können es wohl. Deshalb ist sogar heute noch nicht
sicher, daß er kommt, sondern — bloß wahrscheinlich...“
„Ich soll mich also für eine — wahrscheinlich aussichtslose Sache
zerreißen?“
„Wenn du so fragst, kann ich nur sagen: du sollst dich zerrei¬
ßen - zerreißen, auch ein Wort! Du kennst deine Verantwortung
nicht. Daß man richtig lebt, ist entscheidend.“
„Ich lebe, wie es mir zukommt, mir entspricht, also richtig.“
„Man macht etwas aus seinem Leben, weil man dafür verant¬
wortlich ist. Man lebt nicht für sich
allein.“
„Deshalb will ich ja— mit dir zusammen! — dem Chaos, das —
also gut, nur wahrscheinlich kommt, entfliehen, che es da ist.“
„Also Flucht?“ fragte Anna.
„Wenn du absolut willst, nenn es so.“
„Nein“, sagte sie hart. Sie schüttelte den Kopf.
Er fuhr auf. „Aber das ist ja —!“
Anna sagte: „Der Krieg wird sehr schlimm sein. Aber so, wie
du es dir vorstellst, wird Europa nicht aussehen, auch nach dem
Krieg nicht. Womöglich ist es ein Fehler — wir haben in der
Gruppe mal drüber gesprochen — die Greuel des Krieges und
des Zustands danach zu schwarz zu malen; und wäre alles falsch,
wenn sie wirklich so wären, die Greuel. Denn die, die den Frie¬
den wollen, sind schon gelähmt, wenn sie bloß daran denken,
was kommt - anstatt für die Revolution, und das heißt für den
Frieden, etwas zu tun. Du, Wolf, bist mal ein Beispiel dafür.“
Die Schritte, unter dem Fenster, kamen zurück. Doch der Wind,
der wieder einsetzte, deckte sie zu. Die Lampe im Zimmer, die
einen schmalen Schatten auf das Tapetenmuster warf, pendelte