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sich bitter. Er war sich im Klaren darüber, dass, wäre ihm etwas
widerfahren, eine Beschwerde „nichts bringen“ würde.

Vorder Willkürlichkeitvon Festnahmen und Gewaltanwendun¬
gen warnt er seinen Sohn — und seine LeserInnen — ausdrücklich.
Bestechend ist aber nicht nur der persönliche Ton und die Dring¬
lichkeit von Coates’ Anliegen, sondern auch seine Analyse der
strukturellen Gewalt in den Vereinigten Staaten. Wenn in vielen
amerikanischen Städten schwarze Teenager von Polizisten erschossen
werden, ist das nicht nur ein Problem individueller Verfehlungen.
Denn Rassismus ist integraler Bestandteil des amerikanischen way
of living, denn „Amerikaner glauben an Rasse als fest umrissenes,
naturgegebenes Merkmal unserer Welt“, so Ta-Nehisi Coates. Für
Amerikaner sei daher beispielsweise die Vertreibung der amerika¬
nischen Ureinwohner auf dem Trail of Tears ähnlich zu beklagen
wie ein Erdbeben, ein Tornado oder jedes andere Phänomen, das
des Menschen Werk übersteigt. Verantwortungsübernahme, Ein¬
geständnisvon Schuld und mögliche „Wiedergutmachung“ -auch
wenn nur bedingt möglich - sind so von vorneherein ausgeschlos¬
sen. Gewalt wird bestenfalls bedauert, nicht aber reflektiert und
ursächlich verstanden. Dabei, so Coates in einem Kapitel über die
Ankunft der Europäer auf dem amerikanischen Kontinent und
der Inbesitznahme des Landes, sind „Rassen“ nichts anderes als
Fiktionen: „Dieneuen Menschen waren etwasanders bevor sie weiß
wurden — Katholiken, Korsen, Waliser, Mennoniten, Juden (...)“

Doch, so Coates, brachte die neue Erfindungder Rassen Vorteile,
einen Machtgewinn mit sich, der nützlich war, um sich das neue
Land anzueignen und später mit Hilfe von Sklaven wirtschaftlich
wettbewerbsfähig zu machen: „Die Definition eines ‚Volkes‘ hatte
nie etwas mit Abstammung und Physiognomie zu tun, sondern
immer mit Hierarchie. Unterschiede von Haut und Haar sind
alt. Der Gedanke an die Überlegenheit von Haut und Haar, der
Gedanke, diese Faktoren könnten eine Gesellschaft angemessen
strukturieren und würden auftiefere, unauslöschliche Eigenschaften
hinweisen — das ist der neue Gedanke gewesen im Herzen dieser
neuen Menschen, die rettungslos in dem tragischen Irrglauben
genährt wurden, weiß zu sein.“

In einem Kapitel über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861¬
65) beschreibt Coates, wie in den Südstaaten noch heute der Sieg
der Nordstaaten unter Lincoln bedauert und der Helden von einst
gedacht wird. Dass der Süden den Krieg nur gewinnen wollte, um
weiterhin sein Exportprodukt Nr. 1, Baumwolle, mithilfe von
Millionen von Sklaven finanzieren zu können, wird dort auch
noch im 21. Jahrhundert außer Acht gelassen. Wer schon einmal
an einer Führung durch „alte Gutshäuser“ in einem Staat wie
Louisiana teilgenommen und erlebt hat, wie der Besucher lediglich
schönes Dekor, Mahagonitischchen, Spiegel, Lüsterund Anrichten
bewundern soll (für Europäer in keinster Weise kunsthistorisch
beeindruckend) und wie jeder Frage nach den vielen Baracken im
Hintergrund ausgewichen wird („the blacks ... didn't have a bad
life here“), kann dem nur zustimmen.

Zwischen mir und der Welt stehen nicht nur Irrglauben, Fikti¬
onen und andere erdachte Trennlinien, sondern oft ganz konkret
Gitter. So beleuchtet Coates in einem Kapitel das ausufernde
Straf- und Gefängnissystem in den USA. Jeder 100. US-Bürger,
ein Prozent der Bevölkerung, sitzt im Gefängnis, das ist trauriger
Weltrekord. In den Gefängnissen vegetieren jedoch hauptsächlich
Schwarze. Coates’ genaue Analyse der letzten fünfzig Jahre des
US-Justizsystems, welches die Kategorie „Rasse“ über jedes andere
„Indiz“ stellt, macht besonders betroffen.

82 — ZWISCHENWELT

Allerdings gibt es in den USA seit dem Vorfall von Ferguson
(Herbst 2014) eine Welle an landesweiter, öffentlicher Kritik an
der ubiquitär verbreiteten Polizeigewalt. Darüber erfährt man in
Europa wenig. Die jüngsten Fälle von polizeilicher Gewalt gegen
schwarze BürgerInnen haben beinahe jedes Malzu vielen Protesten
geführt. An Universitäten fiel zum Teil deshalb der Unterricht
aus. Statt dem vorgesehenen Unterricht erzwangen die Studenten
Gespräche mit ihren Professoren über die Vorfälle. Immer mehr
Schwarze studieren und erhalten auch aktive Unterstützung ihrer
nicht-schwarzen Kommilitonen. Selbst einstige Hochburgen „wei¬
ßer angelsächsischer männlicher Studenten“ wie das Dartmouth
College in New Hampshire, eines der sieben Ivy-League-Colleges
des Landes, haben nun Quoten eingeführt: Ein Drittel der Stu¬
denten ist nicht weiß. Eine Veränderung, die sich in nur wenigen
Jahren vollzogen hat. Die Medien in den USA sind derzeit voller
Anklagen gegen die Ungleichbehandlung. So hat der bekannte
schwarze Professor Stan Chu Ilo von der DePaul University in
Chicago in der Huffington Post in seinem Artikel ,,Being a Black
Male in America: Racism and the Police“ die US-Regierung ange¬
klagt, in Bezug auf schwarze junge Männer komplett zu versagen
und weiße Polizisten Schwarze einfach erschießen zu lassen, als
sei deren Leben nichts wert. Er berichtet davon, wie ein schwarzer
Professorenkollege ständig von der Polizei in Chicago kontrolliert
werde, weil man sich offenbar nicht vorzustellen vermag, dass er
ein so teures Auto besitzen könne — und dies nicht Diebesgut sei.

Angesichts der vielen Opfer von Polizeigewalt hat die US-Re¬
gierung im März 2015 eine Task Force ins Leben gerufen, um die
Polizei zu reformieren. Im neuen Abschlussbericht findet sich nun
endlich eine andere Sprache. Da ist von „friedlich“, „deeskalieren“
und „Anti-Konflikt-Training“ die Rede. Das klingt alles gut und
lässt, auch wenn den edlen Worten noch Taten folgen müssen,
zumindest schwache Hoffnung aufkommen.

Zu den Veränderungen dürfte auch die demographische Ent¬
wicklung beigetragen haben. Schwarze und Hispanics haben eine
ungefähr doppeltsohohe Geburtenrate wie Weiße. Längst machen
Schwarze, Hispanics, Asiaten und andere mehr als 50 Prozent der
US-Bevölkerung aus. Sie verlangen zurechtein immer stärkeres ge¬
sellschaftliches Gewicht und ein faireres Rechtssystem. Bald werden
die WeifSen in den USA eine Minderheit sein. Nicht nur die Polizei
muss sich darauf einstellen — und sich ebenfalls verandern. Die
Zeiten, in denen eine überwiegend weiße Polizei widerspruchslos
als eine Art Besatzungsmacht gegenüber derschwarzen Bevölkerung
auftreten kann, werden jedenfalls vorbei sein.

Man kann nur hoffen, dass Coates’ Sohn Samori heil durch seine
Jugend kommt und Glück hat, bei Polizeikontrollen auf Beamte
zu treffen, die erst kürzlich ausgebildet wurden und schon mal das
Wort „friedlich“ gehört haben.

„Zwischen mir und der Welt“ ist auch für Europäer höchst
lesenswert. Denn Rassismus ist keineswegs ausschließlich eine
amerikanische Angelegenheit. Die sich mittlerweile beinah täglich
ereignenden Brandanschläge in Deutschland auf Flüchtlingsun¬
terkünfte sowie die rassistischen Äußerungen vieler europäischer
Politiker gegenüber vor Krieg, Not und Terror Geflüchteten spre¬
chen eine deutliche Sprache.

Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt. Aus dem amerikani¬
schen Englischen von Miriam Mandelkow. München: Hanser Berlin
im Carl Hanser Verlag 2015. 240 S. € 19,90