Christel Wollmann-Fiedler
Das moderne Atrium der Deutschen Bank in
einem Altbau Unter den Linden in Berlin-Mitte
ist eine schöne Umgebung für die Verleihung des
Georg Dehio-Kulturpreises am 24. September
2015. Der Preis wird vom Deutschen Kultur¬
forum östliches Europa in Potsdam vergeben
und ist benannt nach dem in Reval geborenen
Kunsthistoriker Georg Dehio. Der Preis gingan
den in vielen Ländern bekannten und geschätz¬
ten Literaturprofessor der Jurij Fedkowitsch
Universitat in Czernowitz, Dr. Petro Rychlo.
Den Ehrenpreis erhielten die Autoren des Films
Alois Nebel“, Regisseur Tomas Lunak, Grafiker
Jaromir 99 und Autor Jaroslav Rudis.
Reiner Kunze, der Lyriker und Freund Petro
Rychlos, der einst der DDR den Riicken kehrte,
hielt die Laudatio. Petro Rychlo beschäftigte
sich bereits in den 1970er Jahren mit deutscher
Literatur aus der DDR. Viele Dichter aus dem
Osten Deutschlands lernte er persönlich kennen,
so auch Christa und Gerhard Wolf. Er promo¬
vierte über Stefan Hermlin.
Rychlo wurde 1950 in Schyschkowitz im Ra¬
jon Kotzman in der ehemaligen Bukowina gebo¬
ren, ging dort zur Schule, studierte Germanistik
und Literaturwissenschaft an der Universität
Czernowitz. Aus einer ukrainischen Familie
stammend, ist Deutsch nicht seine Mutterspra¬
che; er beherrscht sie dennoch perfekt.
Reiner Kunze erzählt über die kulturelle Viel¬
falt der Stadt Czernowitz, erzählt, dass dort u.a.
Deutsche, Österreicher, Ukrainer, Rumänen,
Juden, Polen und Armenier lebten, und zitiert
aus einer Rede von Petro Rychlo: „Die klei¬
ne Bukowina hat vielleicht zum ersten Mal so
deutlich und überzeugend demonstriert, wie
produktiv das harmonische Zusammenleben
mehrerer Völkerschaften sein kann, die durch
gegenseitige Sympathie und humanistische Kul¬
tur verbunden sind.“
Von Kunze erfahren wir, dass der Literatur¬
wissenschaftler Stapel von Übersetzungsbänden
herausgegeben hat, eine zehnbändige zweispra¬
chige Ausgabe der gesammelten Gedichte Paul
Celans, er erinnert an Rychlos Abhandlung „Jü¬
dische Identitätssuche in der deutschsprachigen
Dichtung der Bukowina“, an Werkausgaben,
u.a. der deutschsprachigen Prosa der ukraini¬
schen Klassikerin Olga Kobylanska, erinnert an
die Vielzahl von Anthologien und erklärt uns
die Schwierigkeiten, ein Gedicht zu übersetzen.
Ukrainische, deutsche und österreichische
Auszeichnungen bekam Peter Rychlo nach der
Öffnung der Grenzen in Europa. Sein Name ist
eng verbunden mit der Wiederentdeckung von
deutschsprachigen Schriftstellern und Lyrikern
der Zwischenkriegszeit, die den Judenverfol¬
gungen und Deportationen ausgesetzt waren.
Von den Überlebenden flohen fast alle nach der
politischen Teilung der Bukowina 1945 nach
Bukarest oder weiter in den Westen. Bis 1990
wurden die deutschsprachigen jüdischen Dich¬
ter der Bukowina und Galiziens in Schulen und
an Universitäten der Sowjetunion nicht erwähnt.
Das Literaturfestival MERIDIAN in Czerno¬
witz, mit der vierwöchigen Lyriktournee vom
Der Exiljugendorganisation Young Austria ein
lebendiges, bleibendes Gesicht zu verschaffen, ist
mir als Leiterin des Künstlervereins KunstPlatzl
schon deswegen wichtig, weil es bis heute vielen
ÖsterreicherInnen unbekannt ist, dass Young
Austrians sich für unsere Freiheit und Demo¬
kratie einsetzten. Als Enkelin von zwei Young
Austrians, Fanni und Ludwig Grossmann, ist
mir Gedenkarbeit ein wichtiges Anliegen, genau
wie meinen verstorbenen Großeltern. Fanni und
Ludwig verliebten sich bei einem Young Aust¬
ria-Heimabend und ihre einzige Tochter wurde
1942 in England geboren. Die Heimabende und
ihre kulturellen und politischen Aktivitäten in
Großbritannien für die Wiedererstehung Öster¬
reichs gaben vielen jugendlichen Flüchtlingen
einen wichtigen Heimatersatz und führten auch
zu Eheschließungen während des Krieges oder
bald danach. Manche Ehen bestehen bis heute
— nahezu rekordverdächtig, aber dazu später.
Young Austria in Großbritannien konnte 1943
schon 1.300 Mitglieder zählen, die im Kampf
gegen Hitler standen. Selbst nach der Auflösung
des Austrian Centre in Paddington im Januar
1947, wo Young Austria seine erste Heimstätte
hatte, blieb der Zusammenhalt länderübergreifend
bestehen. Große Gruppen gab esin London, aber
Peter Rychlo. Foto: C. Wollmann-Fiedler, 2015
Osten Europas bis in den Westen, das in diesem
Jahr zum sechsten Mal stattfand, ist ohne Petro
Rychlo kaum denkbar.
In seiner Dankesrede erzählte Petro Rychlo:
„Diese lebensspendende Eigenschaft der Über¬
setzung im Auge behaltend, habe ich mich all
diese Jahre bemüht, die Stimmen der vergesse¬
nen und vertriebenen, ermordeten und verschol¬
lenen deutschjüdischen Dichter der Bukowina
wiederzubeleben. Diese literarische Aufgabe
betrachte ich zugleich als eine moralische Mis¬
sion, als Wiederherstellung der geschichtlichen
Gerechtigkeit und möchte ihr, gemäß meinen
bescheidenen Kräften, auch weiterhin dienen.“
Reiner Kunze fasste in zwei kurzen Sätzen
Wesentliches zusammen: „Petro Rychlos Werk
selbst ist mitteleuropäischer kultureller Raum
ukrainischer Identität. Europa schuldet dem
heutigen Preisträger großen Dank.“
auch in vielen anderen Städten Großbritanniens,
wie Manchester (wo u.a. meine Mutter auf die
Welt kam) und Glasgow, wo die Töchter der
Young Austria-Funktionäre Eva und Leopold
Spira geboren wurden, nämlich Elizabeth T.
Spira und Liesl Nitsch-Spira. Die Young Austria¬
Dokumentation ist für nachfolgende Generati¬
onen interessant, weil häufig Eltern wenig aus
der Exilzeit vermittelt haben. Nun nach einer
5-jährigen Dokumentationszeit konnte ich mit
einem Team erstaunlich vieles aus den 1940er
Jahren für die Young Austria-Bücher und -Aus¬
stellungen zusammentragen: berührende auto¬
biografische Erzählungen, ebenso neu gefilmte