Renate Welsh
Er heißt nicht Rashid
Seine Geschichte solle ich erzählen, sagte er, aber unter einem
anderen Namen, um seine Familie zu schützen. Ich schlug Rashid
vor. Damit war er einverstanden und erklärte mir nach kurzem
Nachdenken, Rashid bedeute der Rechtgläubige und Besonnene.
Seither sind acht Jahre vergangen, aber so oft in den Nach¬
richten von Tschetschenen die Rede ist, sehe ich sein schmales,
angespanntes Gesicht vor mir mit den großen, fast schwarzen
Augen. Er war gerade erst zwölf geworden, vor zwei Jahren nach
Wien gekommen und sprach fast akzentfrei Deutsch. Dass er
immer wieder in die Luft griff, als müsse er ein Wort mit den
Händen fangen, hatte nichts mit Sprachschwierigkeiten zu tun.
Seinen richtigen Namen habe ich vergessen, ich würde ihn ver¬
mutlich auf der Straße nicht erkennen. Er mich wohl auch nicht.
Rashid also, zwölf Jahre alt, geboren in Grosny, Tschetschenien,
anerkannter Flüchtling in Wien, guter Schüler eines Bundesreal¬
gymnasiums, der einzige Mann in seiner Familie.
Er öffnete auf mein Klingeln, hinter ihm erschien seine Mutter,
eine große schmale Frau von strenger Schönheit, ganz in schwarz.
Als ich die Schuhe auszog, fiel mir auf, wie akkurat die Schuhe der
Familie parallel neben einander standen, ich hatte sofort das Be¬
dürfnis, meine eigenen ebenso gerade auszurichten. Der Fußboden
glänzte, auf dem Fensterbrett lagen sauber gestapelt Schulhefte
und Bücher. Rashid öffnete eine Tür. Das Zimmer war hoch, in
einer Ecke stand ein Tisch mit sechs Stühlen, an zwei Wänden
waren Matratzen gestapelt mit Decken darauf, die als Ecksofas
dienten. Kein Bild an der Wand, kein Teppich, kein Zeichen,
dass hier jemand lebte. Die Mutter wies Rashid mit einer Geste
an, sich neben sie zu setzen und lud mich ein, gegenüber Platz
zu nehmen. Völlig aufrecht saßen sie neben einander, die Mutter
hielt die Hände gefaltet im Schoß, Rashid knetete einen kleinen
Teddybären, krallte immer wieder die Finger in das braune Fell.
Eine Wohnung ohne ein einziges Möbelstück darin hätte sich
nicht so leer anfühlen können; jeder Ton, jedes Wort musste
einen ungebührlichen Hall erzeugen, als Echo weiterschwingen.
Mutter und Sohn schwiegen. Ich erinnere mich genau, dass ich
mehrere Male zum Sprechen ansetzte, bevor ich den ersten Satz
herausbrachte: „Sie kommen aus Grosny?“
„Ja.“ Die Stimme der Mutter klang höher, als ich erwartet hätte.
Sie komme aus Grosny, ihr Mann aber aus Schali. Nach dem
Einmarsch der russischen Armee war er in die Berge gegangen, um
für die Unabhängigkeit Tschetscheniens zu kämpfen. Sie selbst,
ihren Sohn und die Töchter hatte er nach Georgien geschickt,
weil auf Grosny Bomben fielen. Immer wieder musste sie sich
an Rashid um Hilfe wenden, weil ihr Wörter fehlten. Manchmal
diskutierten sie minutenlang wie mir schien, bevor sie mit seiner
Übersetzung einverstanden war. „Ich muss lernen“, sagte sie. „Ich
muss arbeiten.“ In Georgien hatte sie Unterschlupf gefunden in
einem kleinen Dorf ohne Strom, ohne fließendes Wasser, wo die
vielen Flüchtlinge vom Roten Kreuz notdürftig versorgt wurden.
Dort wurde ihre jüngste Tochter geboren. Nach fünf Monaten
kehrten sie nach Schali zurück, dort sah ihr Mann seine Tochter
Ayshe zum ersten und einzigen Mal.
Sie stand auf, ging ins Nebenzimmer und kam mit einem Buch
zurück, geschrieben von einem russischen General. Sie schlug es
auf, eine Seite war so oft aufgeblättert worden, dass sie sich aus
der Bindung gelöst hatte.
Das Bild zeigte einen jungen Mann im Sarg. Sein Schnurrbart
war sorgfältig gestutzt und gekämmit, sein weißes Hemd leuchtete.
Die Mutter hielt das Buch auf beiden Händen, nach einer
Weile nahm Rashid es ihr ab, schloss es, legte es neben sie auf
den Matratzenstapel.
Die Tür ging auf, und die ältere Tochter kam herein mit ihrem
Baby auf dem Arm. Sie sah der Mutter ähnlich, doch war die
Wirkung vollkommen anders, sie hatte nichts von der herben
Unabdingbarkeit der älteren Frau, ihr Lächeln war verbindlich.
Sie wusste, dass sie schön war. Hinter ihr trug die jüngere Tochter
ein Tablett mit drei Teegläsern.
„Ich heiße Ayshe ‚ich bin sieben und bin schon eine Tante!“
Wie einfach war es, das Baby zu bewundern, ein Mädchen dem
die schwarzen Wimpern die rosaroten Wangen streichelten, und
Aysha zuzulächeln und für den guten Tee zu danken.
„Willst du meine Hausaufgabe schen?“
Bevor die Mutter sie wegschicken konnte, versicherte ich Ay¬
sha, dass ich ihre Hausaufgabe schr gerne anschauen wollte. Ich
erschrak fast, als ich das Heft durchblätterte. Jeder Buchstabe wie
gedruckt geschrieben, nach jeder fertigen Aufgabe eine Schmuck¬
zeile in mehreren Farben. Natürlich lobte ich sie, sie nahm das Lob
freundlich entgegen, aber es war klar, dass es nicht genügte, um
ihren Hunger zu stillen. So viel Erwartung in dem kleinen Gesicht.
Eine Handbewegung der Mutter schickte die Töchter zurück
in die Küche.
„Du hast eine wunderschöne Nichte“, sagte ich zu Rashid.
„Ich muss gut auf sie aufpassen“, antwortete er.
Der einzige Mann in der Familie, das hatte er mir schon gesagt,
als wir den Besuch bei seiner Familie ausmachten. Ich vermutete,
dass der Vater des kleinen Mädchens auch in die Berge gegangen
und umgekommen war. Als hätte er meine Gedanken gelesen,
sagte Rashid, er werde „natürlich“ nach Tschetschenien zurückge¬
hen. „Mein Vater ist mein Held und mein Vorbild.“ Wie trotzig
das klang.
Die Mutter zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Kleides.
Als müsse sie sich rechtfertigen erzählte sie, immer wieder sich
selbst unterbrechend, weil ihr ein Wort fehlte, vom letzten Besuch
ihres Mannes in Schali, Aysha war gerade fünf Monate alt. Sie habe
nicht versucht, ihn zurückzuhalten, als er wieder aufbrach, um
in die Berge zu gehen. Den Toten habe sie noch einmal geschen,
ein gutes Hemd habe sie ihm anziehen können, das wenigstens.
Danach war sie mit den Kindern noch drei Monate in seiner
Geburtsstadt geblieben, jeden Abend war sie mit dem Baby im
Arm und den anderen Kindern zu einer Kusine ihres Mannes
gegangen, man habe nie wissen können, wer wen bespitzelte,
so viele wurden Verräter, um die eigene Haut zu retten, manche
sogar, ohne es zu wissen, ein unbedachtes Wort genügte, vor allem
hatte sie Angst vor den russischen Soldaten. Immer unerträgli¬
cher wurde die Situation, ein Gerücht jagte das andere, es war