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sollten sie untergehen? Sie erreichten schließlich
doch den chilenischen Hafen. Weiter ging die
Reise mit dem Zug nach Sucre, der Hauptstadt
Boliviens, wo 1944 Rachels Bruder Hannan
(Henry Robert) geboren wurde. 1946 übersie¬
delte Familie Hirsch nach La Paz, wo Professor
Hirsch als Privatarzt arbeitete und im Institut
Israelita in der Krebsforschung tätig war. Später
wurde das Institut umgetauft und erhielt den
Namen des aus Deutschland geflohenen Dr.
Hermann Hirsch. Rachel Hirsch beendete die
5. Klasse in der Escuela Boliviana Israelita.

Bald wurde Dr. Hirsch Vorsitzender der Zi¬
onistischen Vereinigung Bet Ha’am in La Paz.
Professor Dr. Siegbert Joseph, sein ehemaliger
Vorgesetzter im Israelitischen Krankenhaus in
Berlin, wurde indessen nach Riga deportiert,
arbeitete kurzzeitig als Ghettoarzt, von Riga
brachte man ihn in das KZ Libau in Kurland,
wo er vermutlich erschossen wurde.

Im November 1948 fuhr Familie Hirsch mit
dem Zug nach Buenos Aires und schiffte sich
nach Genua ein, in Genua dann auf ein Schiff
nach Israel. Am 8. Januar 1949 kam das Schiff
im Hafen von Tel Aviv an. Das Wasser war seicht
im alten Hafen, so musste das Schiff außerhalb
ankern; die Passagiere wurden mit Booten an
Land gebracht. Als Privatfamilie kam Familie
Hirsch nach Israel, nicht über die Jewish Agency,
wie so viele andere, die den Holocaust in Europa
überlebt hatten. Der Anfang in Israel war schwer,
wie damals fast überall in der Welt. Aus prakti¬
schen Gründen wurde die Familie getrennt, Frau
Hirsch und Hannan, der Jüngste der Familie,
gingen nach Jerusalem, Elisabeth und Rachel,
die Schwestern, kamen in ein religiöses Heim
für Waisenkinder auf Anraten eines zionisti¬
schen Schulfreundes von Hermann Hirsch aus
Hamburg. Tausende von Kindern, deren Eltern
im Holocaust umgebracht wurden, kamen in
dieses und andere Heime. Sie hatten keine EI¬
tern mehr und weinten nicht. Rachel, die ihre
Eltern ja hatte, weinte unaufhörlich. Sie fühlte

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sich schrecklich unglücklich. Elisabeth wurde
in die englischsprachige Gruppe gesteckt und
Rachel in die jiddischsprachige. Nichts verstand
sie, fühlte sich alleine gelassen.

Frau Hirsch hatte in Jerusalem eine Cousine,
deren Ehemann dort seit 1933 als Kinderarzt
arbeitete. Das Krankenhaus im Militärlager von
Sarafend wurde Regierungskrankenhaus und
suchte Ärzte. Professor Hirsch, der gut ausge¬
bildete Gynäkologe, meldete sich als Vertre¬
tung und wurde sofort genommen. Er baute
die gynäkologische Abteilung seit Dezember
1949 auf. Eine schwere Arbeit, Aufbauarbeit im
neugegründeten Staat Israel. An vielem fehlte
es noch.

Die eingewanderte Familie war in einer Kel¬
lerwohnung in der Yehuda Levin St. in Tel Aviv
untergebracht. Das vorhandene gerettete Ster¬
linggeld tauschte man in Lirot um, die kurze
Zeit darauf abgewertet wurden. Das „kleine“
Vermögen war keine Existenzgrundlage mehr.

Der Schulanfang fiel Rachel sehr schwer, bib¬
lische Fächer gab es viele. Sie besuchte von der
6. bis zu 8. Klasse die Yavne Schule in Tel Aviv,
danach das Gymnasium Ironit Heh und schloss
die Schule 1956 mit dem Abitur ab. Danach
diente sie zwei Jahre und vier Monate beim isra¬
elischen Militär und begann 1958 ein Studium.
Elisabeth, die ältere Schwester, absolvierte das
Handelsgymnasium, kam dann zum Militär,
das sie nach einem Monat aus gesundheitlichen
Gründen beendete. Hannan, der jüngere Bru¬
der, besuchte den Kindergarten. Rachel Hirsch
schrieb sich an der Fakultät für Sozialarbeit der
Hebräischen Universität in Jerusalem ein und
beendete ihr Studium 1961 mit dem Bachelor
of Social Work. Danach arbeitete sie in einem
Psychiatrischen Krankenhaus in Jerusalem,
anschließend kümmerte sie sich in Tel Aviv
um jugendliche Straftäter. Doch irgendwann
genügte ihr die Sozialarbeit nicht mehr. Der
Wunsch nach Veränderung kam.

Als Hannan 1966 heiratete, kam der Onkel
aus Santa Monica zu Besuch. 1938 hatte er eine
Parade mit Hitler gefilmt, mit seiner Kamera
war er überall dabei gewesen. Der Film sollte
konfisziert und Alfred Benjamin verhaftet wer¬
den. Er rettete sich nach England, gründete dort
eine Familie und machte seinen Militärdienst in
Großbritannien. Die Kamera war sein täglicher
Begleiter, in späteren Jahren arbeitete er in der
medizinischen Fotografie einer Orthopädischen
Klinik in Los Angeles und wurde Leiter der
Fotoabteilung. Rachel mochte den Onkel sehr
gerne. Er hat sie für die Fotografie begeistert. Mit
98 Jahren starb Alfred Benjamin im Oktober
2014 in Santa Monica.

Nach dem Sechstagekrieg im September 1967
verließ Rachel Israel und fuhr schnurstracks
nach Hamburg in die Stadt ihrer Vorväter.
Hier besuchte sie Kurse in Schwarz-Weiß- und
Farbfotografie. Ihre Schwester Elisabeth lebte
inzwischen in der Hansestadt, war dort mit
Klaus Henry verheiratet. Rachel stellte eine
Bewerbungsmappe für die Kölner Schule für
Fotografie zusammen und wurde aufgenommen.
Ein evangelisches Studentenheim in Köln am
Hohenstaufenring war von 1968 bis 1971 zwei¬
einhalb Jahre ihr Zuhause. Gleich nach Beendi¬
gung der fotografischen Ausbildung wurde ihr
Gepäck nach Israel verschifft, und im Februar
1971 landete Rachel mit ihrem Ausbildungszer¬
tifikat und Zukunftsvisionen in ihrer Heimat
Israel. Sie wusste bereits, dass die Fotoreportage
ihre Zukunft sein würde. Mit einem sehr gu¬
ten Zeugnis und einer exzellenten Fotomappe
bewarb sie sich bei der Tageszeitung Haaretz in
Tel Aviv. Relativ rasch wurde sie engagiert. Als
freie Mitarbeiterin ohne soziale Absicherung
fotografierte sie sechsundzwanzig Jahre fiir die
Wochenendbeilage, bereiste fiir ihre Reportagen
Israel von Nord bis Siid. Dazu kamen noch sechs
Jahre Theaterfotografie im Theater Habima.
2007 zeigte sie in einer Fotoausstellung in Säo
Paulo achtundfünfzig ihrer Iheaterfotografien
aus sechszehn verschiedenen Theaterstiicken und
gab der Ausstellung den Namen „Limelight“.

Hermann und Rita Hirsch wohnten weiter in
Tel Aviv und zogen 1959 in die Laskow Street im
Zentrum der Stadt. Bis zu seiner Pensionierung
1972 arbeitete der Vater als leitender Arzt der
Gynäkologie und Geburtshilfe im Regierungs¬
krankenhaus ASAF HAROFE. Nach der Grün¬
dung der Universität wurde das ASAF HAROFE
in ein Universitätskrankenhaus umgewandelt.

Ein Schlaganfall veränderte 1987 das Leben
von Professor Hirsch und auch das Leben der
Familie. Der Rollstuhl wurde sein Begleiter und
sehr oft las Rachel, die Tochter, ihm vor, so auch
die Autobiografie von Curt Goetz. Lachen wollte
Hermann Hirsch trotz der schweren Krankheit.
1989 starb Hermann Hirsch in Tel Aviv. Die
Nazidiktatur hatte ihn aus Hamburg und Berlin
verjagt, ins ferne Südamerika und später in das
1948 gegründete Israel. Er wurde in Kiryat Shaul
in Tel Aviv begraben. Am 6. Februar 1996 starb
auch seine Ehefrau Rita.