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Alfred Kolleritsch, Autor und Gründer (1960) sowie seither Herausgeber der Literaturzeitschrift „manuskripte“, war 58 Jahre alt, als er den Roman „Allemann“ über ein Schülerdasein im Nationalsozialismus veröffentlichte (Residenz Verlag Salzburg 1989). Anders als in den „Kriegserzählungen“ etwa von Heinrich Böll, Günter Grass oder Siegfried Lenz, deren Handlungen sozusagen gerade verlaufen, wechselt hier die Perspektive zwischen der des pubertierenden Knaben und der des reflektierenden Autors. So entsteht eine besondere stilistische Spannung. Manches wird realistisch als Erlebnis eines zehnbis vierzehnjährigen Buben geschildert; anderes wird stilisiert und „elaboriert“ als Reflexion geboten. Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen erweitern den Horizont der Darstellung und zeigen Kolleritsch, der auch ein produktiver Lyriker ist, als einen Meister der Sprache. „Das Dunkle und Dumpfe erhellt man nicht, wenn man es erklärt“ — dieses Zitat könnte nicht nur als Motto über der Neuauflage von 2016 stehen, sondern wäre genauso gutein Kommentar zur gegenwärtigen Situation, in der politisch rechtsstehende Gruppierungen in ganz Europa ungeheuren Aufschwung erleben. Das Buch „Allemann“ ist „unschwer als autobiografisch lesbar“, so der Literaturverlag Droschl zur Neuauflage 2016, zum 85. Geburtstag von Kolleritsch. Bei der Erstauflage war nicht absehbar, dass die Thematik heute auch wichtig, ja brisant sein würde. Es geht um den Fremdenhass, der aus der Angst kommt, wenn der „Andere“ als „unheimlich“ erscheint. Das totalitäre NS-Regime lenkte diesen Hass der „Deutschen“ gezielt auf ausgegrenzte Gruppen und versprach „Ordnung und Geborgenheit in völkischer Gemeinschaft“. „Das Erlöstseinwollen ist das Elend der neuen Zeit“, heißt es im Text. Die polnischen Zwangsarbeiter, die französischen Kriegsgefangenen, sie alle „gehören nicht dazu“. Es ist das faschistoide Muster: Um sein Selbstbild zu erhöhen, muss der Mensch andere erniedrigen, die südsteirischen Dörfler fühlen sich den entwurzelten, verschleppten „Untermenschen“ überlegen. Der heranwachsende Josefbeobachtet dies unvoreingenommen, aber er befürchtet, „hineingezogen“ zu werden. Was fühlt er, als zwei polnische Zwangsarbeiter grundlos von SS-lern erschossen werden, weil es den Mördern eben behagt? Der Autor gesteht dem Josef eine gewisse Skepsis zu, die erlaubt, Widersprüchliches bei den „Mitmachern“ zu erkennen, etwaals die ersten jungen Männer aus dem Dorf den „Tod für Führer und Vaterland“ gestorben sind. Der zeitliche Rahmen der Handlung: sie beginnt im Sommer 1941, nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, da kommt Josef mit zehn Jahren ins Gymnasium. Die Geschichte endet chaotisch mit der Kapitulation Deutschlands im Frühsommer 1945, Josef ist vierzehn. 58 _ ZWISCHENWELT Er pendelt zwischen dem Heimatdorf, wo die Familie Geborgenheit bietet, und der Stadt Graz. Auf dem Lande sind es die beiden Großväter, die sagen, dass die Angst vor Krieg und Gewalt dazu beiträgt, „die Lüge zu vermehren“. Es ist die Generation, die noch den Vielvölkerstaat Österreich und den Ersten Weltkrieg erlebt hat. — In Graz hingegen herrscht die neue Generation der Lehrer und der Erzieher, die schon völlig gleichgeschaltet sind. Schule und Heim bereiten das „Schülermaterial“ auf das Soldatentum und den Kampf vor. In der Stadt wird sogar der Sternenhimmel zum Feindgebiet, als die Fliegerbomben kommen; Verdunkelung herrscht, der Schlossberg bietet im Stollenlabyrinth Schutz, wenn die Zöglinge noch rechtzeitig dorthin gelangen. Weder im Roman noch in den zahlreichen Besprechungen von 1989 gibt eseine „Zeit davor“, als hätte es keine demokratische Staatsform oder Weltanschauung vor 1933 bzw. 1934 gegeben. Und doch ging gerade von Österreich aus, um 1900, der Impuls zur Moderne nach ganz Europa, es war nicht nur Wien, sondern auch Graz, wo in Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur das Neue an- und aufbrach. Allerdings wurden bereits ab 1934 im Austrofaschismus die nicht angepassten Vertreter dieses Aufbruchs verfolgt, vertrieben oder eingesperrt. Im Roman ist die „Geschichtslosigkeit“ der Handlung nicht hinterfragt. Doch im Urteil über das Umfeld dieser Erzählung muss dies erwähnt werden. Denn es gibt eine Person, deren Vergangenheit sicherlich in die tolerante und liberale „Moderne“ zurück reicht. Es ist Allemann. Er hieß wirklich Allemann, er hatte Theologie studiert und war ganz anders als „alle Mann“, nicht nur weil er halb blind war und hinkte. Sein Vorname war Frieder, und er war gegen Krieg und Militär, somit zur falschen Zeit am falschen Ort. Erwurde als Erzieher in der NS-Zeit in das Grazer Schülerheim geschickt, ein „Reichsdeutscher“. Er wollte nicht, wie es gefordert wurde, die Buben zu „deutschen Jungs“ mit militärisch deformiertem Charakter erziehen. Der Bub Josef, der schon in seinem Dorf mit Gleichaltrigen das Onanieren „geübt“ hatte, erfährt zu seinem Erstaunen, dass ein Erwachsener, eben Allemann, die Heranwachsenden zu der —verpénten — Selbstbefriedigung ermuntert. Dieser Betreuer handelt gegen die Regeln, bringt Unordnung, wo doch das ganze System auf Ordnung und Drill, auf „Ertüchtigung“ ausgerichtet ist. Der Körper soll kämpferisch funktionieren, aber nicht Lust verschaffen. Der asketischen Perversion des Systems fielen die fünfzig Millionen Toten zum Opfer. Der Heimleiter und die anderen Erzieher werden als Vertreter dieser nekrophil zu nennenden Perversion geschildert. Historisch verbürgt ist, dass Frieder Allemann kurz vor Kriegsende in Graz durch Enthauptung exekutiert wurde. Ihm war jedoch niemals sexueller Missbrauch der Zöglinge vorgeworfen, geschweige denn nachgewiesen worden. Er war wohl schlicht homosexuell, das genügte den Denunzianten und dem Todesrichter. Die 25 Rezensenten (alle männlich) des Romans von 1989/90 erwähnen bis auf einige wenige nicht die Hinrichtung des Frieder Allemann. Sie ist heute, 2016, bereits Thema der historischen Forschung. Eine Ausnahme machte Johannes Frankfurter („Neue Zeit“, Graz, 14. April 1989), der die Onanierspiele der Heimzöglinge als Form unbewussten Widerstandes gegen die tägliche Kriegsertüchtigung durch sadistische Handlanger des Regimes ansah. Der Kritiker der „Furche“ (26. Mai 1989) hingegen — der wie Frankfurter auch die Exekution erwähnt - hält das Buch von Kolleritsch für „ein literarisches Missverständnis“ und hat keinen Sinn für die unterschwellige Kritik des Autors an den „unbelehrbaren“ Mitläufern. Zur Form des Romans bemerkt Thomas Stangl im Nachwort zur Neuausgabe, dass die Rahmenhandlung - sie spielt um 1985 — nicht äußerlich ist, sondern „sie markiert die (aufgehobene) zeitliche Distanz; durch sie erst bekommt die Erinnerung ihre Form ... Es ist nichts vorbei.“ In diesem Fall sind es die Grabreden auf einen Naziverbrecher und die Wirtshausgespräche der „Ewiggestrigen“ im Dorf; von ihnen wird der Autor angeregt, die Kindheit vor vierzig Jahren zu rekonstruieren. Er tut dies in 93 Skizzen, teils ironisch, teils betroffen. Eine Szene soll exemplarisch nacherzählt werden. Als Josefs Vater erfährt, dass der junge Organist der Dorfkirche „im Osten“ gefallen ist, hängt er das- in Wohnzimmern damals obligate — Hitler-Porträt ab, holt das bis dahin im Versteck gehortete Bild heraus, das der französische Gefangene, der „Kriegsfeind“, unter dem Schutz der Familie heimlich gemalt hat. Es ist „modern“ und der Vater hat bisher keinen Zugang zu der unrealistischen Darstellung gefunden. Und nun erhält dieses Kunstwerk den Ehrenplatz an der Wand über dem Sofa. Eine Rehabilitation? Ein zarter Wink, dass Veränderung möglich, dass „Wahrheiten“ nicht unumstößlich sind. Hedwig Wingler Alfred Kolleritsch: „Allemann“. Roman. Mit einem Nachwort von Thomas Stangl. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl 2015. 190 S. € 20,00 Alfred Kolleritsch, geboren 1931 in Brunnsee bei Mureck, lebt in Graz. Griinder (1960) und Herausgeber der Literaturzeitschrift „manuskripte“. 1959 Mitbegründer und von 1968 bis 1995 Präsident des Forum Stadtpark in Graz. In zwei zu empfehlenden Büchern ist übrigens das Fallbeil aus dem Grazer Landesgericht abgebildet, in Stefan Karner (Hg.): „Graz in der NS-Zeit 1938 — 1945“ (Graz, Wien, Klagenfurt 1999), S. 400; und in Heimo Halbrainer, Victoria Kumar (Hg.): „Kriegsende 1945 in der Steiermark. Terror, Kapitulation, Besatzung, Neubeginn“ (Graz 2015), S. 100. (Besprechung in: ZW Nr. 1-2/2016).- H.W.