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Zeitgeistespegenwart Ich lieb ja solche Bücher. Bücher, bei denen man von Anfang an das Gefühl hat, dass keine Anstrengung dahintersteht, cher so etwas wie Muße, dazu Interesse, Faszination, nebst Leidenschaft und Verantwortungsbewusstsein. Bücher, die ihre Materie versammeln und ausbreiten wie sich eine Persönlichkeit ansammelt und ausbreitet, in und über den Elementen des Lebens. Bücher, in denen man nicht einer Handlung hinterherlaufen muss, sondern wie durch ein Kabinett mit verschiedensten Kunstwerken schreitet, die unterschiedlich sind in Größe und Ausrichtung und auch in der Tiefe, in welche man ihrem künstlerischen Ansatz folgen kann. Jeder Aspekt ist mit einem Aufruf verbunden, den nur der Einzelne annehmen oder abweisen kann. Solche Bücher - zu denen auch Karl-Markus Gauß’ Journal „Der Alltag der Welt“ zählt, das eine Ansammlung von Geschichten, Erlebnissen, Lektüreeindrücken, Weltstreiflichtern, Alltagsbetrachtungen (nebst philosophischer Höhenflüge über den Landschaften dieser Betrachtungen) und Zeitkritik ist —, vermitteln ein Höchstmaß an Zugang zur Welt im speziellen Fall von Gauß: zur Welt, wie sie heute besichtigt werden kann, als Schauplatz des Jetzt, als Ansammlung von Gegenwärtigem, das oft Spiegel und Bilder enthält, die Vergangenes und Metaphysisches aufkommen lassen. Mai 2011, 57. Geburtstag: Nicht mehr zurückschauen, dorthin, wo unablässig die Welt verschwindet, aus der ich gekommen bin, und in der großen Mühle gleichermaßen zermahlen wird, wofür wir uns begeistert haben und wogegen wir uns empörten? Gerade, weil es anders kam, darf ich nicht vergessen, wovon ich geträumt habe, und erst recht nicht vergessen, wovon ich überzeugt war, dass ich mich niemals mit ihm abfinden werde. (Seite 10) Der Alltag der Welt hat den Ton des Alterswerkes im Gepäck, auch wenn man das Gott sei Dank schnell vergisst; dennoch: die ganze Haltung ist durchdrungen von vielen Wendungen - egal, ob sie Gauß selbst oder einen von ihm in den Fokus gerückten Autor betreffen —, die eine Art von Abschlussstimmung evozieren. Die Stimme, die uns in dem Buch entgegentritt (ja, entgegentritt, denn ganz lässt das Ich dahinter den Leser nie in seine Welt; gewährt kurze Aufenthalte, um aufzuklären, aber man weiß, dass man gerade dem Stift folgt und entstehen sieht, was eben noch Gedanke war und jetzt formuliert wird), ist darauf bedacht sich als Teilnehmer der Welt zu begreifen und diese Teilnahme auch zu thematisieren. Teilnahme an der Welt überhaupt zu thematisieren. Wer den Dingen hinterher zu denken versucht, dem ist das Gefühl der Vergeblichkeit vertraut, denn was verschwindet und vergessen wird, wächst schneller als alles, das er in die Erinnerung zu retten vermag. Was aus dem Gedächtnis getilgt ist, gehört aber nicht mehr zu meiner Vergangenheit, es gehört zu niemandem, es ist gar nichts, selbst dass es einmal existiert hat, haben wir vergessen. (Seite 23) Dazu gehört auch das Schreiben, das schon lange Teil des Ich ist und als Teil des Selbst wahrgenommen wird, was wiederum den Bogen zu der Stimmung eines Alterswerkes schließt und auch vielfach das Selbstverständnis mit ins Spiel bringt. Ein Selbstverständnis, das zwischen selbst erschlossener und in der Welt notwendiger Position sich eingependelt hat und bei dem man nichtsicher ist, ob man ihm einige kräftige Stöße geben soll, damit es wieder etwas darüber hinausschwingt, oder ob man es in seinem Schwung belassen kann, welcher ein Zeitempfinden hervorbringt, in dem man gut existieren kann. Warum aber schreibt man? Um immer bei denselben Gedanken zu bleiben, sich in denselben Ideen, Idealen zu behaupten — oder doch, um neue auszuprobieren? Um sich, gegen den Lauf der Zeit, in seinem Innersten zu bewahren — oder um sich schreibend zu verändern, im täglichen Akt des Schreibens das aus sich herauszutreiben, von dem man vor dem Schreiben vielleicht gar nichts wusste und das man erst schreibend von sich und der Welt entdeckt? (Seite 198) Schreiben als Akt und Überbleibsel der Aufklärung: Was im Geschriebenen sich Bahn brechen kann, enthält die Chance, der Wirklichkeit näher zu kommen (und vor allem: ihr näher zu stehen als den alltäglichen Illusionen). Ohne lediglich Fakten und Daten zu präsentieren, bietet Gauß’ Buch einen Ausblick auf das, was leicht abseits der Wege liegt, die von uns allen begangen werden; Wege, die sich nicht selten als breite Straßen erweisen, die das Abseitige zu Gunsten höherer Geschwindigkeiten von dort verdrängt haben. Obgleich im herkömmlichen Sinn veraltet, rufen seine tagespolitischen Betrachtungen Probleme und Geschehnisse vor Augen, über die die Öffentlichkeit schon wieder hinweggegangen ist, obwohl sich darin Schlüsselstücke unseres Zeitgeistes verbergen. (Lösungen wurden zwar keine gefunden, aber neue Probleme, die man in den Fokus rücken kann. Dass Berichterstattung so funktioniert und ebenso unser Bewusstsein für die Dinge, die verändert, verhindert, verbessert werden müssen, ist eine der fast schon lapidaren Wahrheiten, die einem unter der Hand gereicht werden.) Gauß setzt diese Stücke sorgsam wieder ein in das schnell zappende Wesen unserer Aufmerksamkeit. Wenn er nicht gerade über Bücher oder Personen spricht, im Kosmos der eigenen geistigen Welt weilt und sich von der Hinwendung zur Zuneigung begibt, schaltet Gauß den Kanal der Wirklichkeit nie ab; was er mitteilt, erstreckt sich vom Ernsten bis zum Dubiosen und er scheint keine wirklichen Unterschiede zwischen beidem machen zu wollen; was vor allem heift, dass jedes Thema, auf das Gauß kommt (und er sieht oft und nahezu überall ein Thema), Erstaunliches und Fxistenzielles enthält. Man hat schnell das Gefühl auf eine weite Reise mitgenommen zu werden, eine Reise in die Architektur einer humanistisch geprägten Seele, einem Ich, das die Ambivalenz der Welt aufzeigen will, auch, weil so der Raum für die Ambivalenzen im Eigenen behauptet werden. Ein Ich, das seine Ideen mit einer Selbstverständlichkeit und Bescheidenheit zu Welteinsichten erklärt, als gäbe es keinen Zweifel an der Wichtigkeit des Individuums, welches als einziges dem Universum, der Welt, mit seinem Blick, seiner Anschauung, gerecht wird — und wenn man Gauß liest und immer weiter liest, schwinden diese Zweifel auch wirklich. Und irgendwie wird man letztendlich nicht nur in den Reichtum eines fremden Verstandes eingeladen - es bildet sich schnell auch die Erkenntnis, dass das eigene Ich ein ebenso weites, ausgereiftes, bewohntes und umtriebiges Geschick ist; ein Behältnis, das mit so vielem gefüllt wurde und gefüllt werden kann, das vieles enthält, mit dem man viel anfangen kann; ein Idee, die es mit der Welt als Idee aufnehmen kann. Es ist ein Skandal, der mich beschämt und aus dem ich doch alle Kraft beziehe: dass ich nur in meiner Zeit existiere, aber mit ihr nicht identisch bin. (Seite 276) Womit wir an dem Punkt angelangt sind, an dem ich mein eigenes Ich einschalte, das zwar schon die ganze Zeit durch diese Zeilen waltet, aber sich jetzt direkt und auf sich gestellt mit einigen Zitaten aus dem Buch auseinandersetzen will. Es gibt so Sätze, die sind wahr, weil ihr Inhalt logisch korrekt formuliert ist, und Sätze, die sind wahr, weil ihre Aussage in der Empfindung einen positiven Widerhall findet. Das sind zwei verschiedene Arten von Wahrheit: die erste hat eher etwas mit Richtigkeit, die andere hat etwas mit Schönheit zu tun, dem Aspekt, den Platon nicht von der Wahrheit trennen konnte. Natürlich ist die Wahrheit nicht immer schön, aber würde man statt Wahrheit in den hässlichen Fällen eher von Richtigkeit oder Tatsächlichkeit sprechen — ich bin mir nicht sicher, ob dann nicht Wahrheit tatsächlich nur noch etwas mit Schönheit zu tun hätte. Oktober 2016 59