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mitgenommen. Bei einem späteren unangekündigten Besuch Manoscheks verwehrte er diesem den Zutritt zu seinem Haus: Die Enkelin habe ihm jeden weiteren Kontakt verboten. Eine gerichtliche Verfügung folgte. 2008 tat die Dortmunder Staatsanwaltschaft, was die österreichischen Behörden jahrzehntelang verabsäumt hatten: Sie leitete Ermittlungen gegen den mutmaßlichen NS-Mörder Adolf Storms ein, der bis dahin völlig unbehelligt in seiner Kleingartensiedlung gelebt hatte. Aufgrund von Storms Alter und Gesundheitszustand wurde von einem Haftbefehl abgesehen. Ende Oktober 2009 wurde gegen ihn Anklage wegen Mordes in mindestens 58 Fällen erhoben, doch ein verschlepptes Sachverständigengutachten über seine Verhandlungsfähigkeit verzögerte den Prozessbeginn. Am 11. Juni 2010 lag es endlich vor — zu spät, wie sich zeigte: Adolf Storms starb noch im selben Monat im Alter von 91 Jahren. Obwohl es kein Geständnis und kein Gerichtsurteil gibt, steht für Walter Manoschek außer Zweifel, dass Storms die ihm zur Last gelegten Verbrechen tatsächlich begangen hat. Hatten diesen bereits die Zeugenaussagen in den Nachkriegsprozessen und zahlreiche Indizien schwer belastet, so kam nun eine weitere Aussage hinzu — die des inzwischen in Kanada lebenden ehemaligen HJ-Führers Karl Bundschuh, der Storms eindeutig als Täter benannte. Insgesamt 15 Stunden hat Walter Manoschek mit Adolf Storms gesprochen. Die Dialoge bilden die Basis seines Dokumentarfilms „Dann bin ich Ja ein Mörder!“ Das Buch zum Film analysiert die Interviews und liefert wichtige Hintergrundinformationen — über Storms Biographie, die antisemitischen Maßnahmen in Ungarn, den Einsatz ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen beim Südostwallbau und die Todesmärsche als letztes düsteres Kapitel im Zusammenhang mit diesem gigantomanischen Projekt des NS-Regimes in der letzten Kriegsphase. Auch den Ablauf des Massakers in Deutsch Schützen sowie die beiden Nachkriegsprozesse hat Manoschek im Detail rekonstruiert. Von der Schuld Storms überzeugt, bleiben für Manoschek andere zentrale Fragen offen: Warum hat Adolf Storms diese Morde begangen? Weshalb hat er ihn, den Forscher, zu mehreren langen Gesprächen empfangen, bei denen noch dazu ein Kameramann zugegen war? Wie sind Storms — tatsächliche oder vorgebliche — Erinnerungslücken zu bewerten? Manoschek bietet verschiedene Erklärungsmodelle an. Karrierismus scheidet, wie er zeigt, für die Zeit unmittelbar vor Kriegsende als Motiv für die Morde aus, ebenso blinder Gehorsam, denn in der wegen der näher rückenden russischen Front chaotischen Situation hatte es keinen Befehl dazu gegeben. Außerdem hätte ein HJ-Bannführer (in diesem Fall Alfred Weber) nicht die Macht besessen, einem SS-Mann Anweisungen zu erteilen. Storms war seit Kriegsbeginn bei der Reichsbahn dienstverpflichtet gewesen; er hatte der NSDAP und der Allgemeinen SS angehört und sich 1942 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Bis gegen 64 ZWISCHENWELT Kriegsende war er an der Ostfront im Einsatz gewesen. Durch einen frechen Betrug hatte er sich den Weg in eine unauffällige Nachkriegsexistenz geebnet: Er besaß noch einen Ausweis mit einem Stempel des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau, wo ihn die US-Amerikaner zu Kriegsende interniert hatten. „Da hat man mich hier in Duisburg gefragt, ob ich im KZ in Dachau war und da habe ich ‚ja‘ gesagt. So wurde ich natürlich bevorzugt behandelt.“ Seine frühere Dienstgeberin, die Deutsche Bahn, bot ihm unverzüglich einen Arbeitsplatz an und es wurde ihm sogar ein Baugrundstück zugewiesen. Ob Storms auch im Osten Kriegsverbrechen begangen hat, ist nicht geklärt. Der Ablauf des Massakers in Deutsch Schützen und die Ermordung eines erschöpften Juden auf dem Marsch nach Hartberg lassen jedoch vermuten, dass er „Routine im ErschiefSen von Menschen“ hatte. Manoschek war ursprünglich davon ausgegangen, dass Storms die Erinnerung an das Geschehen verdrängt hatte, weil die damit verbundenen Emotionen zu belastend waren. Doch nichts an Storms Verhalten deutete auf einen seelischen Schmerz im Zusammenhang mit den Ereignissen in Deutsch Schützen hin. Was ihn hingegen so sehr aufwühlte, dass er einen vereinbarten Interviewtermin absagte, waren seine Erinnerungen an die Erlebnisse an der Ostfront, vor allem an seine Einkesselung in Tscherkassy und die Nahkampfgefechte. Hatte Storms seinen Gesprächspartner also belogen oder den Treffen nur zugestimmt, um herauszufinden, welches Beweismaterial gegen ihn vorlag? Eine weitere — und die zugleich verstörendste — Erklärung, die Manoschek für denkbar hält, ist, „dass Adolf Storms seine Mordtaten in Deutsch Schützen schlichtweg vergessen hat. Keine Verdrängung, keine Erinnerungsverfälschung, keine Lügen, sondern das Fehlen jeglicher Emotionalität bei der Ausübung der’ Tat und damit das Fehlen der Notwendigkeit zur autobiographischen erinnerungsmäßigen Verarbeitung des Geschehens.“ Er bezieht sich auf das von Harald Welzer für die NS-Täterforschung entwickelte Verfahren der Referenzrahmenanalyse, in dem es darum geht zu rekonstruieren, innerhalb welcher Deutungsmuster und Vorstellungen die Täter Situationen wahrgenommen haben. Um ihr Denken und Handeln zu verstehen, ist es notwendig, sich ihren damaligen Gefühlshaushalt zu vergegenwärtigen. Mit einem von unserem gegenwärtigen Wertesystem geleiteten normativen Ansatz ist dies, wie Welzer dargelegt hat, unmöglich, man käme über eine zwar moralisch berechtigte, erkenntnistheoretisch aber unbefriedigende Anklage nicht hinaus. „Möglicherweise war es die Nichtkommunizierbarkeit der damaligen Motive und Handlungen im heutigen moralischen Referenzrahmen und nicht seine fehlende Erinnerung, die es Storms verunmöglichte, mit mir darüber zu sprechen. Denn offensichtlich wollte er mir etwas sagen. (...) Wie hatte er mit mir über den begangenen Massenmord sprechen können? (...) In der Sprache der Gegenwart hätte das Eingeständnis, an diesem Verbrechen in Deutsch Schützen beteiligt gewesen zu sein, bedeutet, sich selbst als Massenmörder zu bezeichnen und zu verurteilen. (...) Für die von ihm 1945 begangene Tat existierte 2008 keine Sprache, mittels der er mit mir darüber hätte kommunizieren können.“ Die Waffen-SS — der ,,Orden unter dem Totenkopf“ — war eine Eliteeinheit, deren Angehörige sich als „politische Soldaten“, als „Weltanschauungskrieger“ verstanden, die die ideologischen Prämissen des NS-Regimes im Kriegsalltag umsetzten — den unerbittlichen Kampf gegen den „Jüdischen Bolschewismus“ und den „Rassenkrieg gegen die Juden“. Sie agierten in einem organisatorischen Referenzrahmen, der das Gebot der Tötung von Juden explizit mit einschloss. „Unsere Ehre heißt’Ireue“, lautete der Leitspruch der Waffen-SS. Das Massaker in Deutsch Schützen war keine Exzesstat, es war, wie Manoschek zeigt, eine freiwillige Hilfeleistung dreier Angehöriger der Waffen-SS für einen durch eine Kriegsverletzung beeintrachtigten ehemaligen WaffenSS-Kameraden, den damaligen HJ-Bannführer Alfred Weber. Dieser hatte ihnen berichtet, dass die jüdischen Zwangsarbeiter in Deutsch Schützen nach der Desertion der SA-Wachmannschaft unbeaufsichtigt waren und sich die Rote Armee bereits in unmittelbarer Nähe befand. Kurz danach war der gemeinsame Beschluss gefallen, die noch im Ort anwesenden Juden zu erschießen. „Die logistische Umsetzung erfolgte gezielt und routiniert: Die drei SS-Männer wurden am Morgen von zwei HJ-Führern zum ausgewählten Erschießungsort geführt. Dann wurden die Juden in kleinen Gruppen zum Laufgraben geführt und mittels Genickschuss getötet.“ Die SS-Männer hätten „kaltblütig lachend und plaudernd auf uns geschossen“, erinnerte sich ein Uberlebender. Auch die Ermordung des erschöpften Juden auf dem Marsch nach Hartberg durch Adolf Storms dürfte ähnlich emotionslos — gleichsam en passant — abgelaufen sein. Lange Zeit war man in der Holocaustforschung aufein bipolares Täterbild fixiert gewesen: auf das von dämonischen Führungspersönlichkeiten und pathologischen Exzesstätern auf der einen und ideologiefreien bürokratischen Schreibtischtätern auf der anderen Seite. Doch der Großteil der Schuldigen war, wie wir heute wissen, nicht krank und nicht abnorm. Auch die Mörder stammten aus der Mitte der Gesellschaft, waren Menschen, wie wir sie heute in jedem Land der Erde antreffen würden, eine bestimmte „Täterpersönlichkeit“ lässt sich nicht herausdestillieren. Die Angehörigen der im Osten eingesetzten Polizeibataillone etwa, die sich in kürzester Zeit von biederen Bürgern zu einer „Meute von Massenmördern“ gewandelt hatten, bildeten einen „Querschnitt der deutsch-österreichischen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus“. Für Manoschek ist die Identifikation mit der Vernichtungsideologie die gemeinsame Komponente, die bei allen Tätern zum Tragen gekommen sei. Abermals verweist er auf Harald Welzer, der den Wandel des normativen Gefüges als einen gesellschaftlichen Prozess beschreibt, in dem die radikale Ausgrenzung von definierten