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Gruppen zunehmend als positiv betrachtet und das Tötungsverbot schließlich in ein Tötungsgebot umgewandelt wird. In Deutschland wurde diese normative Umorientierung 1933 unmittelbar mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten durch die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden eingeleitet, sie setzte sich mit deren Vertreibung fort und gipfelte in der physischen Vernichtung. Da die Ausrottung aller Juden oberste Priorität besaß, galt jedes Handeln als moralisch rational und wertvoll, das dazu beitrug, dieses Ziel zu erreichen. Wie die monströsen Verbrechen im Osten zeigen, war mitdem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 das normative Gefüge soweit verändert, dass der durchschnittliche „Volksgenosse“ die physische Vernichtung der Juden als Notwendigkeit oder gar als moralische Pflicht akzeptiert hatte. Doch es war kein Zufall, dass der millionenfache Mord nicht vor den Augen der deutschen und österreichischen Bevölkerung stattfand, sondern fern der Heimat, wodurch auch eine emotionale Distanz geschaffen war. „Erst mit der Deportation Zehntausender ungarischer Juden und Jüdinnen nach Östösterreich ab Sommer 1944 kehrte das vermeintlich längst erledigte ‚Judenproblem‘ wieder auf heimischen Boden zurück. Erst die Endphasenverbrechen an Zehntausenden Juden und Jüdinnen im Frühjahr 1945 sollten zeigen, wie tief sich die nationalsozialistische BUCHZUGÄNGE Vernichtungsmoral gesellschaftlich verwurzelt hatte. Damit wird das traditionelle Bild obsolet, wonach sich der Holocaust auf eng definierbare Orte eingrenzen lässt und gleichsam als von der großdeutschen Öffentlichkeit abgeschirmter industrieller Prozess in abgelegenen Tötungsfabriken im Osten stattgefunden hätte. Vielmehr spielte sich die letzte Phase des Holocaust vor der Haustüre ab: in Rechnitz, Deutsch Schützen, Engerau, Hofamt Priel und vielen Dutzenden anderen Orten in Österreich und Deutschland.“ Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat sich —- literarisch — ebenfalls mit den Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, namentlich mit dem Massaker in Rechnitz, befasst. In ihrem als Nachwort ans Ende des Buches gestellten Kommentar zum Film lobt sie, dass Manoschek in diesem „ganz nebenbei (...) eine neue Ihese für diese zehntausendfachen, scheinbar sinnlosen und unmotivierten Morde am Ende des Krieges ins Spiel“ gebracht habe: „Er fragt, ob da vielleicht ein Hass wäre, ein Hass auf die eigene Niederlage, darauf, dass man die besten Jahre seines Lebens für diesen Krieg geopfert hatte, der nun verloren war, und jetzt haben (trotz aller grausamen Bemühungen) die andren gesiegt: die Juden, die Russen, die Alliierten. Die Todfeinde. Man konnte sie nicht besiegen.“ Manoschek habe die Dinge „in aller Klarheit, ohne Naivität, sogar ohne Dämonisierung der Täter“ dargestellt: „Das ist eine große Kunst. Das ist bisher zu selten passiert, eben, wie gesagt, eine Darstellung ohne Eifer und ohne Zorn, von einem, der leidenschaftliche Teilnahme für die Opfer hat, ohne die Täter ahistorisch zu verteufeln und zu dämonisieren.“ Walter Manoschek selbst überlässt es letztlich dem Leser, der Leserin, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob Adolf Storms verdrängt, vergessen oder gelogen hat oder ob er an die Grenzen des Sagbaren gestoßen ist. Storms Taten und sein Umgang damit bedrücken, beunruhigen. Noch beunruhigender aber ist, dass die durch diesen Film und dieses Buch gewonnenen Erkenntnisse weit über den individuellen Täter und dessen Schuld hinausreichen. Einmal mehr wird hier deutlich, welch dünnes Eis Zivilisation und Barbarei trennen und dass es oft nur kurzer Zeitspannen und einer Änderung bestimmter Rahmenbedingungen bedarf, um es brüchig werden zu lassen. Sich dies vor Augen zu halten, beunruhigt besonders in einer Zeit, in der die Ausgrenzung von Menschengruppen längst wieder salonfähig geworden ist. Gabriele Anderl Walter Manoschek, „Dann bin ich ja ein Mörder!“ Adolf Storms und das Massaker an Juden in Deutsch Schützen. 219 S., geb., Schutzumschlag, mit beigelegter DVD, Wallstein Verlag, Göttingen 2015. € 25,60 Uwe Beyer (Hg.): Europa im Wort. Eine literarische Seismographie in sechzehn Aufzeichnungen. Heidelberg: Lesezeichen Verlag 2016. 245 S. € 19,80 Sofia & Hans Joachim Breustedt: An Marysia. Eine Familiengeschichte in Briefen 1935-1950. Hg. von Helga Hofer. Salzburg: mary salzmann 2015. 495 S. € 35,00 Evelyn Deutsch-Schreiner: Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016. 349 S. € 24,99 Regina Gottschalk: Auf Nachricht warten. Die Geschichte der jüdischen Familie Getreuer aus dem Böhmerwald 1938-1942. Viechtach: edition lichtung 2015. 179 S. € 17,90 Erich Hackl: Literatur und Gewissen. Innsbruck: Innsbruck university press 2016. 110 S. € 12,90 (Innsbrucker Poetik-Vorlesungen 1. Hg. von Ulrike Tanzer, Sieglinde Klettenhammer, Anna Rottensteiner, Gabriele Wild). Brigitte Halbmayr: Herbert Steiner. Auf vielen Wegen, tiber Grenzen hinweg. Eine politische Biographie. Weitra: Bibliothek der Provinz 2015. 335 S. € 25,- (Enzyklopadie des Wiener Wissens. Porträts. Bd. III. Hg. von H.Chr. Ehalt für die Wiener Vorlesungen. Dialogforum der Stadt Wien). Heimo Halbrainer, Eva Klein, Antje Senarclens de Grancy: Hilmteichstraße 24. Haus AlbrecherLeskoschek von Herbert Eichholzer. Mit einem Text von Mariella Enajat, Zeichnungen von Bettina Paschke und Fotos von Ramona Winkler. Graz: CLIO 2016. 159 S. € 24,00 Dominik Hofmann-Wellenhof: Autobiographische Darstellungen von Identitatskrisen im Exil. Frederic Mortons und Ruth Kliigers Suche nach Briicken in einer neuen Heimat. Innsbruck u.a.: Studienverlag 2016. 178 S. € 24,90 (Transatatlantica. Vol. 9). Michael Mesch (Hg.): Wie kam der Keynesianismus nach Österreich? Mit Beiträgen von Günther Chloupek, Alois Guger und Johannes Feichtinger. Wien: Verlag des ÖGB 2016. 112 S. € 19,90 U.a. mit dem Beitrag G. Chaloupeks über „Die Emigration von Ökonomen aus Österreich in die USA und nach Großbritannien und der Einfluß der Riickwanderer auf Wirtschafispolitik und Wirtschaftsdenken“. Kerstin Schoor, Stefanie Schüler-Springorum: Gedächtnis und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa. Göttingen: Wallstein 2016. 287 S. € 29,90 Jozej Strutz: Die Ästhetik der konstruktiven Dissonanz — Prezivoh Voranc und der Kosovel-Kreis. Widerstand und Pazifismus in der slowenischen Literatur. Eine Anthologie der slowenischen Literatur 1911-50, übersetzt und kommentiert von Jozej Strutz. Klagenfurt/ Celovec: Edition Rapial edicija 2016. 152 S. Lili Chuwis Thau: Versuche zu überleben. Die Geschichte einer jüdischen Familie unter NSHerrschaft in Lemberg und Galizien. Aus dem Englischen von Klara Strompf. Hg. von Erhard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre 2016. 358S. Jörg Ihunecke: Das erzählerische Werk Friedrich Ch. Zauners. Nottingham: Edition Refugium 2016. 117 S. Vladimir Vertlib: Létrange mémoire de Rosa Masur. Paris: Editions Métailié 2016. 410 p. € 22,00 (Bibliothéque allemande. Dirigée par Nicole Bary). Zeitschrifien Spiegelungen. Zeitschrift fiir deutsche Kultur und Geschichte Siidosteuropas. 11. Jg. H. 1: Rumäniendeutsche und Nationalsozialismus. Regensburg: Friedrich Pustet 2016. 260 S. Schwerpunkt zu dem brisanten Thema mit Beiträgen von Timo Hagen, Ulrich A. Wien, Dirk Schuster, Hannelore Baier, Corneliu Pintilescu u.a. Oktober 2016 65