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Editorial Mit den aktuellen großen Fluchtbewegungen und den zahllosen Menschen, die im Mittelmeer ertrunken, in plombierten Lastwägen erstickt, in kalten Nächten erfroren sind, stellt sich die Frage, ob sich das, was heute geschieht, mit der Flucht politisch und rassistisch Verfolgter aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten vergleichen oder gar gleichsetzen läßt. Der große Ähnlichkeit besteht darin, daß damals wie heute viele Staaten keinen Aufwand scheuen, Flüchtlinge vom Eindringen auf das je eigene Territorium abzuhalten. Man erinnere sich an die Konferenz von Evian im Juli 1938, einberufen in der menschenfreundlichen Absicht, die Aufnahme jüdischer Emigranten ausdem Deutschen Reich zu regeln, und endend in einer Verschwörung zur Verschärfung der Einreisebestimmungen. Ein großer Unterschied zur heutigen Situation besteht in den Ursachen, ein größerer noch in der Zusammensetzung der Personen, die seit der Machteinsetzung Hitlers die Flucht zu ergreifen gezwungen waren: Jüdinnen und Juden sowie politische Gegner des Regimes welcher Richtung auch immer, also zwei aus der Perspektive der Machthaber relativ präzise von der übrigen Bevölkerung auszugrenzende Gruppen. Zu den an die 550.000 Vertriebenen aus Deutschland und dem vormaligen Österreich sind übrigens auch mindestens 300.000 jüdische Flüchtlinge aus Polen (vor allem in die Sowjetunion und nach Ungarn) zu zählen. Die Millionen Menschen zum Beispiel, die in Syrien ihre Heimstätten verlassen mußten, lassen sich jedoch nicht so klar von den Verbliebenen abgrenzen - sie erscheinen zunächst als Opfer eines verheerendes Bürgerkrieges. Ganz verkehrt scheint es mir, die Ablehnung, die nun von mancher Seite den Neuankömmlingen in Europa entgegenschägt, in irgendeiner Weise mitdem immer noch virulenten abendländischen Antisemitismus gleichzusetzen, dessen moderne Ausprägung im „Juden“ ja nicht so schr das Fremd- als das Gleichartige wittert. Und verkehrt ist es auch, mit dem Schlagwort „Islamophobie“ — auch wenn ganze wissenschaftliche Jahrbuchreihen dazu erscheinen mögen — jedes Bedenken über die Ansprüche, die der Islam an seine Gläubigen erhebt, vom Tisch zu wischen. Es ist klar, daß die Stellung der Frau und das Verhältnis von Religion und Staat in einem modernen Islam neu definiert werden müßten. Ich sche es nicht als Aufgabe von Menschen, die durch die Erforschung des Exils aus den von Faschismus und Nationalsozialismus beherrschten Ländern zu einem kritischen historischen Bewußtsein beizutragen suchen, sich nun für Flüchtlinge aus den verschiedensten Ländern zu engagieren. Ich bemerke zwar, auch bei mir selbst, daß sich gerade Menschen, deren Familienangehörige dereinst aus rassistischen und politischen Gründen verfolgt worden sind, für die heutigen Flüchtlinge, deren Rechte und Lebensmöglichkeiten besonders einsetzen, und ebenso auch die, die durch historisches Bewußtsein für fortbestehendes Unrecht und das Leiden von Flüchtlingen sensibilisiert worden sind. So hat sich der Mitherausgeber dieser Zeitschrift, Vladimir Vertlib, an der bayerisch-österreichischen Grenze wochenlang an der Flüchtlingsarbeit beteiligt, worüber er ausführlich in dem Sammelband „Europa im Wort“ (Heidelberger Lese-Zeiten Verlag 2016) berichtet. Auch in dem in „Zwischenwelt“ Publizierten spiegeln sich die veränderten Verhältnisse wider. Auflällig ist indes die Verachtung, mit der ein Teil der seitlängerem in Österreich lebenden Migranten den Neuankömmlingen aus 4 ZWISCHENWELT Afrika und Asien begegnet. Es heißt, sie befürchteten zunehmende Konkurrenz im Niedriglohnsektor und aufdem Wohnungsmarkt. Sie interpretieren ihre Geschichte offensichtlich anders als die Nachkommen von WiderstandskämpferInnen und Exilierten die ihre. Exilforschung entwickelte sich in Österreich im wesentlichen außeruniversitär, auch wenn etliche Universitätsangehörige an ihr beteiligt waren und sind. Selbst an der Universität Wien existiert kein Institut für Exilforschung. Die meisten ForscherInnen auf diesem Gebiet befinden sich materiell in einer prekären Situation, schlagen sich in der Hoffnung auf künftige Forschungsaufträge mit den verschiedensten Tätigkeiten durch oder leben gar von der Mindestsicherung. Man muß fürchten, daß das zarte Flämmchen des Interesses am Exil aus Österreich und dessen Kultur durch den anderen Wind, der nun weht, ausgeblasen werden könnte. Und fürchten, daß die Förderungen auf diesem Arbeitsgebiet weiter eingeschränkt werden könnten. 2012 sind schon die Förderungen durch das Wissenschaftsministerium weggefallen. Andere öffentlich-rechtliche Einrichtungen haben ihre Förderungen eingestellt oder stark reduziert. Es kommen auch wieder die alten Gespenster, die von Vergangenheit und Schlußstrich reden angesichts der großen Ausmaße der gegenwärtigen Probleme und der immer geringeren Anzahl der Überlebenden von Vertreibung und Massenmord. Dabei wäre es angezeigt, daß die Exilforschungiihre Zielsetzungen nicht einengt, sondern ausweitet. Die Internationalität der Exile hatbislangvielzu wenig Beachtung gefunden. Es entstanden - um sie in der Reihenfolge ihrer Entstehung zu nennen — bedeutende Exilgruppen aus Italien, Spanien, der Tschechoslowakei, Polen, Frankreich; vielfach standen antifaschistische Exilgruppen und jüdische Gemeinschaften aus verschiedenen Ländern in regem Kontakt. Das Exil und der Widerstand gegen den Nationalsozialimus wären moralisch und ideell eine bessere geistige Grundlage für ein vereintes Europa als jene verblasene, geschichtsneutrale Distanzierung vom „lotalitarismus“, die jetzt in der EU propagiert wird. Eine andere Erweiterung der Forschung hat sich in den letzten zwanzig Jahren zügig entwickelt, nämlich die Erforschung und Dokumentation des Lebens und Werks von Frauen im Exil, wodurch sich ein prüfender Blick aufddas Verhältnis der Geschlechter, auf Arbeitsteilung und geschlechtsspezifische Erwartungen ergab. Dadurch wurde nicht nur eine neue Aufmerksamkeit für Werke zu Unrecht vergessener Autorinnen und Künstlerinnen im Exil geweckt, sondern auch ein breiter Zugang zum Alltag des Exils, zu seinen täglichen Nöten und Gefährdungen erschlossen. Auch die Rückkehr aus dem Exil, vor allem aber das ganze große Kapitel der sogenannten Wiedergutmachung und der Restitution wurden in den letzten zwanzig Jahren zum Gegenstand ausgiebiger Forschungen, wobei allerdings das Los derer, die nichts verloren hatten außer ihren Großeltern, Tanten, Onkeln und ihren Lebensperspektiven ein wenig außer Acht geblieben ist. Dazu wäre noch viel zu sagen. Zu Alexander dem Großen soll einst ein Mann gekommen sein, ihm seine Kunst, Linsen durch eine Öse zu spucken, vorzuführen. Alexander ließ dem Manne ein Schaff Linsen reichen, seine Kunst weiter auszuüben. So huldvoll fühlte ich mich manchmal auch behandelt. Konstantin Kaiser