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Renate Welsh-Rabady Statt eines Editorials: Dankesrede zum Theodor Kramer für Schreiben im Widerstand und im Exil 2017, Niederhollabrunn, 12. September 2017 Als ich hörte, dass ich den Theodor Kramer Preis bekommen sollte, musste ich mich zuerst von der Überraschung erholen, bevor ich mich richtig freuen konnte, dafür war die Freude dann umso größer, auch das Gefühl, dass mit diesem Preis ein Auftrag verbunden ist, und für dieses Vertrauen danke ich der Jury ganz besonders. Literatur steht immer in einer spannungsreichen Wechselbeziehung zu Politik und Gesellschaft, darin liegt ihre Starke und ihre Schwäche, vor allem ergibt sich daraus eine Verpflichtung. Nicht weil ich etwa glauben würde, wir könnten die Welt direkt verändern. Ich bin aber schr wohl überzeugt, dass wir einen gar nicht so kleinen Anteil an den Erklärungsmodellen haben, aus denen individuelle Weltsicht und Menschenbilder entstehen. Der Ruf nach dem starken Mann - es kann auch ein puer robustus sein — der gleichzeitig in so vielen Ländern anschwillt, ist eine gefährliche Drohung gegen alles, was wir an Werten aus unserer schwierigen, schuldbeladenen Geschichte gerettet haben. Kritik am „starken Mann“ wird nicht als Angriff auf ein besimmtes Individuum betrachtet sondern auf das in ihm verkörperte Prinzip, das ihn und seine Anhänger von vornherein jeder Schuld enthebt. Kritik gilt daher als Verbrechen, das zum Ausschluss aus der Gemeinschaft mit allen existentiell bedrohlichen Konsequenzen führt. Die vielleicht fatalste Auswirkung ist, dass Fragen in jeder Hinsicht unter Verdacht geraten, inklusive der Frage, die eine der Grundfragen des Menschen überhaupt ist: Wer bin ich und warum? Diese Frage ist ja durch die Gefolgschaft ein für alle Mal beantwortet. Hinzu kommen die sogenannten Sachzwänge einer Wirtschaft, die einerseits Kreativität und andererseits Konformismus fordert, „Menschenmaterial“ in der Kosten-Nutzen Rechnung auflistet und immer schärfere Sanktionen vorsicht für alle, die aus welchen Gründen immer nicht in vorgestanzte Rahmen passen. Wenn aber einem einzigen Menschen egal wo auf der Welt Würde und Gerechtigkeit vorenthalten werden, sind die Menschenrechte in Gefahr, und mit ihnen die Demokratie. Das wirklich Verstörende ist, dass demokratische Prozesse dazu missbraucht werden, die Demokratie auszuhöhlen, und dass dazu keinerlei Gewalt nötig ist, dass vielmehr die gröbsten Verstöße gegen die Menschenrechte die Zustimmung einer satten Mehrheit finden. Was dem Wesen nach antidemokratisch ist, geschieht angeblich, um die Demokratie zu retten. Was hat das mit Literatur zu tun? Ich würde behaupten, dass die Antworten, die Literatur auf die Fragen ihrer Zeit liefert, häufig nicht so wichtig sind wie ihre Funktion, immer wieder auf die Notwendigkeit von Fragen zu verweisen, Fragen von neuen Gesichtspunkten aus zu stellen, Fragen zu legitimieren. Theodor Kramer war Anwalt der Ausgestoßenen und Verlorenen, derer, die von der Gesellschaft aufgegeben waren, die sich selbst aufgegeben hatten. Er benützte keine Weichzeichner, keine Schönfärberei, die Armut, die er schildert, ist nicht verklärt, er hielt 4 ZWISCHENWELT sich nicht die Nase zu vor dem Gestank des Elends,. Er schreckte nicht zurück vor Laster, Gier, Wut, Verzweiflung und Ausweglosigkeit, aber nie stellte er Menschen bloß, beraubte sie nie ihrer Würde. Immer wieder blitzt schamhaft unter sehr rauer Schale Güte und jene Zärtlichkeit hervor, die über das Urteilen hinaus aus der Genauigkeit erwächst. Vor allem aber haben die Menschen in seinen Texten Gesicht und Geschichte bekommen, meist in der denkbar knappsten und dadurch besonders eindringlichen Form, wurden wahrgenommen. Wer nicht wahrgenommen wird, gerät in Gefahr vernichtet zu werden, ja gar nicht existiert zu haben. Eines der großen Probleme unserer Zeit - vielleicht das, in dem alle anderen wurzeln — liegt in der Sprachlosigkeit, die keineswegs stumm sein muss, sondern durchaus geschwätzig daherkommen kann. Wer nicht gelernt hat, der eigenen Sprache zu vertrauen, mit sich selbst und der eigenen Erfahrung in Dialog zu treten, kann die eigene Geschichte nicht in Besitz nehmen und daher auch nicht mit anderen in Dialog treten. Die anderen werden zur Bedrohung, ihre Sicht der Dinge kann die eigene nicht ergänzen und bereichern sondern nur in Frage stellen. Die Fähigkeit zum Dialog kann sich nicht entwickeln, verkümmert, die Gründe dafür sind vielfältig, haben oft mit der tief sitzenden Angst zu tun, Fehler zu machen. Dabei bilden doch Fehler die Leiter, die es uns erlaubt zu wachsen und unsere Fähigkeiten auszuprobieren. Ich bin überzeugt, dass gestaltete Sprache eine Möglichkeit ist, Menschen einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie sich erkennen können mit ihren Schwächen und Stärken, ihren Grenzen und ihren Möglichkeiten. Geschichten lösen Geschichten aus: Wenn aus dem bloßen Hören Zuhören wird und die Erzählungen der einzelnen nebeneinander stehen, einander sogar ergänzen, können auf diesem Boden Freundschaften wachsen. Freundschaft setzt nicht Verständnis voraus, sondern Achtung vor dem Anderssein des oder der Anderen. Verstehen kann ich nur, was wenigstens im Ansatz auch in mir vorhanden ist, achten kann ich auch das völlig Fremde. Als absoluter Gegensatz zu den „starken Männern“, die im Vollbesitz der Wahrheit, der einzigen und absoluten Wahrheit sind und sein müssen und selbstverständlich keine Abweichler dulden können, ist diese Einstellung natürlich offen für Kritik, sie lebt geradezu davon. Das hat nichts, aber auch schon gar nichts mit Beliebigkeit zu tun. Im Gegenteil. Gerade weil jede einzelne Wahrheit im Konzert mit vielen anderen Platz und Stimme finden muss, bleibt sie unter ständiger Beobachtung und Selbstkritik, kann sich auch durch die Interaktion mit anderen Wahrheiten weiter entwickeln. Tote Wahrheiten hingegen sind unveränderbar. Es ist modern geworden, das Wort „gut“ als Synonym für dumm, naiv oder im besten Fall weltfremd zu verwenden, „Gutmenschen“ als gefährliche Trotteln, oder gar als potentielle Staatsfeinde zu betrachten. Sokrates sagte, „Niemand will mit einem Mörder zusammenleben“ — dabei bleibt es wohl keinem erspart mit sich selbst zusammen zu leben. Ich behaupte, dass die unendliche Mühe, die wir dafür aufwenden, Erklärungen und Gründe für Fehler und Gemeinheiten zu finden, beweist, dass wir im Grunde lieber gut waren, dass wir immer wieder — manchmal mit wachsender Verzweiflung — auf der Suche nach dem sind, was wir als gutes