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Leben betrachten könnten, ein Leben, das mit uns und mit der Welt im Einklang ist und Sinn hat. Einzelnen, die sich schwach und wertlos als Verlierer ausgeliefert fühlen, bieten die „starken Männer“ Erlösung von allen Problemen in der Gefolgschaft, dazu als starkes Band einen die Gemeinschaft festigenden Außenfeind — und töten auf diese Art mit grauenhafter Konsequenz genau die Werte ab, die sie zu schützen vorgeben. Dagegen müssen wir uns wehren, und ich bin überzeugt, dass die Literatur in diesem Kampf eine Rolle spielen kann und muss. Letztlich tun wir ja nichts anderes als Anschreiben gegen das Vergessen, dagegen, ausgelöscht zu werden. Einer der Teilnehmer in der VinziRast sagte unlängst nach einer Schreibwerkstatt: „Ich mag den Gedanken, dass, wenn ich nicht mehr auf der Welt bin, in der gelben Mappe im Büro oben noch ein paar Texte von mir sein werden. Vielleicht liest sie ja einer.“ Vielleicht liest uns ja einer. In dieser Hoffnung trifft er sich mit uns allen, die wir schreiben. Vor Jahren hat sich eine Nachbarin in unserem Dorf in Niederösterreich bei mir beklagt: dass ich über eine andere Nachbarin ein Buch geschrieben hatte. „Und ich muss mir selber einen Grabstein kaufen. Das ist so was von ungerecht.“ Die Frau war Kleinbäuerin, ihre Familie war mit einer der grausamsten Erbkrankheiten geschlagen, darüber war sie bitter und hart geworden . Sie hatte sicher nach ihrer Schulzeit kein Buch außer dem „Gotteslob“ in der Kirche in ihren Händen gehalten. Trotzdem schätzte sie den Wert eines Buches so hoch ein wie den eines ordentlichen Grabsteins. Inzwischen liegt sie unter einer Platte aus poliertem schwarzem Granit, die hätte ihr gefallen. Wir freuen uns sehr, heute hier mit Ihnen feiern zu dürfen. Wir hoffen, dass Niederhollabrunn nicht nur als Ort, wo Theodor Kramer geboren wurde, seinen Platz auf der literarischen Landkarte behaupten wird, sondern auch als Ort einer lebendigen Auseinandersetzung in seinem Geburtshaus, die die Schulkinder und die Alten des Ortes ebenso einbezieht wie alle anderen Einwohner mit ihren einzigartigen Geschichten und Erfahrungen ebenso die Erinnerung an einen großen Mann. Es ist mir ein Bedürfnis, noch einmal für die große Ehre zu danken, die dieser Preis für mich bedeutet, und ebenso herzlich für Ihr Zuhören. Ich würde mir wünschen, dass vielen Menschen ein solches Zuhören geschenkt wird. Das Land ist voller Fallen. Ein Ort, an den man geraten kann, wo man picken bleibt. Eine Liebschaft, gar eine Ehe, die ein Mädchen eingeht oder anstrebt. Die Einladung eines Autofahrers, sein Fahrzeug zu besteigen. Ein Platz in einer Gaststätte, der Annäherungen ausgesetzt ist. Vollends die Eltern, die Familie, eine Falle, in die man geht, ohne die geringste Chance, ihr zu entgehen. Ein Vater, der das Kind ausnützt und mißbraucht. Auch die Justiz ist eine Falle, ein System von Fallen; der Speck, mit dem sie Mäuse fängt, heißt Gerechtigkeit. Die Richter erfahren vieles, ganze Biographien werden ihnen auf den Tisch gelegt; vielleicht sind sie neben den Pfarrern die einzigen, die wirklich aus vielfältigen Quellen etwas vom Volke wissen. Daraus folgt natürlich keine Verbindung mit dem Volk. Sie gehören einem Berufsstand an, dem es versagt ist, aus Erfahrung zu lernen. Was sie von dem Leben auffassen, das ihnen dargeboten wird, leiten sie um in die Kanäle ihrer Verfahren, die zu einem Abschluß zu bringen sie angehalten sind. Albert Drach gehört einer schon historisch gewordenen Intelligenz an, die in juristischen Berufen nicht zu denken aufgehört hat — Hermann Grab, Oskar Jellinek, Albert Fuchs, Walther Rode. Heute wissen Gerichtssaalberichterstatter zu erzahlen, in welch schabigen Umgangsformen sich manche Richter ihres Auftrags entledigen. Das ist eine andere Intelligenz, die traditionelle, wie es scheint. In Drachs Buch wird der moderne, nämlich der traditionelle Stand der Richter und Juristen samt den polizeilichen Anhängseln mit der kritischen Wut einer historisch gewordenen, untergegangenen Intelligenz geschildert, einer Intelligenz, die dem, was heute noch vielfach gang und gäbe ist, schon vor sechzig Jahren hundert Jahre voraus war. Nicht eine einheitliche Vorstellung des Rechtes, ob nun rechtspositivistisch oder durch nazistische Reminiszenzen ans gesunde Volksempfinden geprägt, hält den Justizapparat in Balance, sondern eine Wirklichkeitsauffassung, die sich als Resultat der gesammelten Vorurteile und Verrichtungen aller an der Rechtsprechung Beteiligten zum monströsen Gesamtkunstwerk fügt. In diese sprichwörtlichen Mühlen der Gerechtigkeit, eine steinerne Landschaft aus abgelebter Leidenschaft, Arrestantenzellen und Korridoren, geraten die „Mädels“, eigensinnige Geschöpfe von punktueller Spontaneität, deren Bezugspunkt ein „Matrose“ ist. Nicht nur in diesem fast zufällig wirkenden Detail tritt die Parallelität des Buches zu Leberts „Wolfshaut“ hervor. Drängt sich dort die Landschaft wie ein atmendes, stöhnendes, keuchendes Wesen zwischen die Menschen, isoliert sie und überbrückt zugleich die ungeheure Verschiedenheit, in die sie zueinander geraten sind, füllt hier der Justizapparat die Lücken zwischen den marginalen menschlichen Regungen aus, die kaum geeignet scheinen, den nächsten Menschen auch nur als Reibung zu erreichen. Konstantin Kaiser Albert Drach: Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll. Wien, München: Hanser 1991. 351 S. (Erstausgabe 1971. Jetzt als Band L, hg. von Ingrid Cella, der Werke in zehn Bänden zugänglich). Oktober 2017 5