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südfranzösischen Dieulefit aufzugeben’, hatte sie sich nach einem
neuen Ort umgeschen, der ihr eine künstlerische Heimat bieten
konnte. Wegen des konservativen oder bisweilen reaktionären
Wiener Klimas hatte sie sich einst in Südfrankreich niedergelassen,
1963 gab sie Italien den Vorzug.

Die Künstlerin fühlte sich in den 1950er und 1960er Jahren in
Wien nicht wirklich verstanden. Zwar hatte sie vereinzelte promi¬
nente Förderer wie Viktor Matejka oder die Kunsthistoriker Ernst
Buschbeck’, Fritz Novotny sowie den Albertina-Direktor Walter
Koschatzky. Dieser hatte mit der Österreichischen Kulturvereini¬
gung 1966 in der Albertina eine Ausstellung ihrer Zeichnungen
und Aquarelle organisiert und dabei ihr „kontinuierliches Be¬
kennen zu einer künstlerischen Mitteilung des Menschlichen, zu
den Werten, zum echten humanen Begreifen der Welt und des
Menschen“ hervorgehoben.‘ Engagierte humanistische Kunst, die
an das moralische Bewusstsein appellierte, war aber in der Zeit des
Kalten Krieges hierzulande nicht wirklich gefragt. Zudem waren
die späten 1960er Jahre eine Zeit des Umbruchs, des Aufbegehrens
gegen Traditionen, des künstlerischen Experimentierens und des
aufkommenden Aktionismus. Vor diesem Hintergrund mussten
die dem Realismus verpflichteten Arbeiten Waehners eher tradi¬
tionell oder konservativ, jedoch sicherlich nicht avantgardistisch
gewirkt haben.

Anders verhielt es sich da in dem für politische Kunst offenen
Italien, in dem durch den Neorealismus eine gewisse Basis und ein
Interesse für Gesellschaftskritik und eine moralische Haltung auch
in der Kunst vorhanden waren. Wachners Auseinandersetzung mit
der italienischen Politik hatte schon 1927, also zu Zeiten Mussolinis
eingesetzt. Das Schicksal Giacomo Matteottis, des 1924 von den
Faschisten ermordeten Generalsekretärs der sozialistischen Partei
Italiens, wurde ihr zum Anlass für einige Zeichnungen. Einzelne
der damals entstanden Federzeichnungen („Vita di Matteotti“,
Entwürfe für ein Fresko°) variierte sie im ersten Holzschnittzyklus
1970-72. Wichtige Kontakte mit dem Nachkriegsitalien hatte
Waehner durch ihre Teilnahme an der bedeutenden, von Cesare
Gnudi 1965 organisierten Ausstellung „Arte e Resistenza in Euro¬
pa“ (Bologna, Museum Civico) geknüpft. Weitere Ausstellungen im
Italien der 1970er Jahre sollten folgen; häufig waren die Kataloge
mit einem Vorwort von Cesare Gnudi (1910 — 1981) versehen,
einem dem Antifaschismus verpflichteten Kunsthistoriker und
Direktor der Pinakothek in Bologna.°

Der zweite Grund, sich mit dem Holzschnitt zu befassen, dürfte
ein pragmatischer gewesen sein. Wachner schreibt, dass sie um
Weihnachten 1969 aufgrund einer schweren Krankheit begon¬
nen habe, in ihrem Krankenlager Holzschnitte zu schneiden.
Die Rekonvaleszenz erklärt vielleicht auch, weshalb sie in ihren
Zyklen aufältere Arbeiten, vorzugsweise auf ihre antifaschistischen
Zeichnungen aus den Jahren 1927-37 zurückgriff: die Themen
erschienen ihr aktueller denn je’, doch wollte sie sich in dieser
Technik zunächst auch erneut erproben.

Der erste Zyklus „Schöpfung und Vernichtung“ / „Creazione e
Annientamento“, 1970-72, den sie auch als eine Art Testament
bezeichnete, istzugleich der umfassendste (69 Blätter) und variiert
die christlich-jüdische Schöpfungsgeschichte von den jüngsten
politischen Ereignissen her. Wachner bezicht sich dabei auf ihre
eigene Biografie sowie auf die ihrer Freunde, „äußert wertvolle
Menschen“. Ihnen, der „Jugend und künftigen Generationen“
war das Werk denn auch gewidmet.® Der in sieben Gruppen
unterteilte Zyklus beginnt mit Blättern zur Genesis, poetischen
Landschaftsbildern im Weißlinienschnitt. Die folgenden Gruppen

sind im Schwarzlinienschnitt gehalten, daher auch wesentlich grö¬
ber und aggressiver gearbeitet. Im Überblick wirken die Grafiken
stilistisch uneinheitlich, aber auch inhaltlich ist die Zuordnung
zu den sieben Gruppen nicht immer nachvollziehbar. Häufig hat
sie christliche Themen mit mythologischen, außereuropäischen,
antifaschistischen oder zeitgenössischen in Bezug gesetzt; fast jedes
Blatt ist schon in der Titelgebung doppeldeutig.

Während sich die Blätter zum Thema Genesis (1) noch weitgehend
im traditionellen Sinn mit der Entstehung der Weltbis zur Sintflut
befassen, finden wir bei den folgenden drei, den Primitiven (2),
das Goldene Kalb oder die Ja- und Neinsager (3) und den Festen (4)
bereits viele Blätter, die Wachners antfaschistische Haltung zum
Ausdruck bringen. Erwähnt sei in dem Zusammenhang außer der
Neuinterpretation der Matteottiszenen, der Anprangerung der
Gleichschaltung unter Mussolini, das Blatt „Trauernde Mütter des
Spanischen Bürgerkriegs“ oder das der sich zuprostenden Natio¬
nalsozialisten im „Münchener Bräuhaus (oder Bacchus)“. „Golgota
oder Auschwitz“, eines der beeindruckendsten Blätter, konfrontiert
die Leiden der in den Konzentrationslagern Eingesperrten mit
der Passion Christi. Aufrüttelnde Darstellungen wie die vor einer
Synagoge am Boden liegenden Leichen („Christliche Opfer oder
die Synagoge“) oder die Ansammlung von Juden vor dem Passamt
(„Keine Pässe oder Christus wird von den Söldnern verspottet“)
sind der vierten Gruppe zugeordnet. Dazu zählt auch das wohl
berührendste Blatt. Es illustriert das nächtliche, lebensgefährliche
Durchschwimmen des eiskalten Rheins zwischen Vorarlberg und
der Schweiz. Der Schäferhund eines Nazis am Ufer kläfft hinterher
(„Ohne Visum, ohne Pass“). Die meisten mythologischen Szenen
finden sich in der Gruppe Erholung / Ricreazione (5). Der Bezug
zur Gegenwart wird dann im sechsten Themenbereich Väter und
Söhne (6) intensiviert. Neben christlichen Aspekten widmet sich
die Künstlerin den damals aktuellen Themen wie der „Pille“, dem
„Nein zu Marihuana“, den demonstrierenden Studenten oder den
neuen technischen Errungenschaften. Im abschließenden siebten
Themenkomplex, Eine amerikanische Geschichte (7), konfrontiert
sie eben diese mit den Porträts bedeutender politischer Akteure:
Das Gesicht „Che Guevaras (oder der Ölberg“) taucht in einem
Olivenhain auf, Martin Luther King wird von den bedrohlichen
Kapuzen des Ku Klux Clan bedrängt. Es finden sich aber auch
Zeichnungen mit einer pessimistischen oder positiv utopischen
Aussage. „Joseph wird von seinen Brüdern verkauft: 1932 und
heute“: unter den mit Hakenkreuzen versehenen Helmen warnen
grinsende Totenköpfe vor der bedrohten Zukunft der Jugend.
Das Blatt „Die Mutter des Herren oder die Amme des weißen
Kindes“ zeigt eine Afroamerikanerin, die ein weißes Baby stillt.

Oktober 2017 13