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Walter Thaler

Die politische und moralische Verantwortung für die Verbre¬
chen des Nationalsozialismus in Österreich lässt sich auch nach
mehr als siebzig Jahren nicht abschütteln. Zu lange wurde das
kollektive Verschweigen als falsch verstandene Heilmethode für
den demokratischen Genesungsprozess Österreichs betrieben.
Zu stark war die Nachwirkung der Mitverantwortlichen und
Mitwisser der Unmenschlichkeit bis in die späten fünfziger Jahre
des 20. Jahrhunderts wirksam. Als logische Folge der Nürnberger
Prozesse, in denen die 24 Hauptverantwortlichen des NS-Systems
vor Gericht standen, verfestigte sich bei der Bevölkerung der
Eindruck, dass mit der Abstrafung bzw. Hinrichtung der grö߬
ten Verbrecher des Regimes Deutschland wie Österreich für die
ungeheure Schuld ihres Menschheitsverbrechens nun ein für alle
Mal gesühnt hätten. Zudem gelang es einem wesentlichen Teil
der mittleren Schicht der nationalsozialistischen Führungselite
wieder an die Schalthebel der Macht in Politik, Justiz, Verwaltung
und Gesundheitswesen zu gelangen. Aufgrund dieser Kontinuität
wurde nicht nur ein erheblicher Teil der NS-Verbrechen weiter
verschwiegen und verdrängt, sondern lange Zeit auch das Dritte
Reich einer positiven Mythenbildung unterzogen.'

Die historische Forschung hat sich daher ebenso und allzu lange
nur mit den Hauptverantwortlichen des NS-Terrorregimes be¬
schäftigt und außer Acht gelassen, dass die tägliche Routine der
Unterdrückung, der Verfolgung und des Mordens einer großen
Zahl von pflichteifrigen Handlangern bedurfte. Aus Motiven der
Mitglieder- und Sümmenmaximierung haben zudem die politi¬
schen Parteien in Österreich sehr rasch versucht, den Mantel der
Vergebung über die ehemaligen Nazis zu breiten. Widerstands¬
kämpfer und Märtyrer waren zahlenmäßig gegenüber den Opfern
aufden Schlachtfeldern — von wenigen Persönlichkeiten wie Franz
Jägerstätter abgeschen — kaum erkennbar und fielen daher dem
Vergessen anheim. Zudem wurden die Widerstandshandlun¬
gen zumeist nicht durch organisierte Gruppen und nicht nach
strategisch-taktischen Überlegungen ausgeführt, sondern waren
Formen einer individuellen, nichtorganisierten Resistenz. Wo „die
Unmenschlichkeit zur täglichen Routine“ (Harold James) wurde,
versanken heroische Einzeltaten in der Vernebelungstaktik der
personellen Kontinuität in vielen gesellschaftlichen Bereichen.

Ein politischer Bezirk wie der Pinzgau — größer als das Bundes¬
land Vorarlberg — wurde daher weder von der Täter- noch von
der Opferseite einer näheren Betrachtung unterzogen. So kam
es, dass weder aus dem Pinzgau stammende Hauptverbrecher
des NS-Regimes noch ihre Opfer im kollektiven Bewusstsein der
Region oder des Bundeslandes gespeichert sind. Die Aufgabe fak¬
tengestützter Regionalforschung muss es daher sein, einen Bezirk
als personale Konfliktzone, als auseinander berstende ideologisch¬
moralische Landschaft darzustellen. Denn andernfalls entstünde
der Eindruck, dass nur die absolute Elite der NS-Herrschaft fiir die
Verbrechen dieses Systems verantwortlich war. Dieser Bericht soll
veranschaulichen, dass auch in einer abgelegenen — damals noch
weitgehend agrarisch orientierten — Region sowohl höchstrangige
Nazi-Verbrecher als auch Widerstandskämpfer und standfeste
Märtyrer zwei unterschiedliche moralische Facetten ergeben. Eine

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Region ist moralisch keine Einheit, die Dichotomie zwischen Ver¬
brecher- und Märtyrergestalten soll durch die Sichtbarmachung
solch widersprüchlicher Personen und ihrer Lebensbilanzen ver¬
anschaulicht werden. Denn nur Tatsachenwahrheiten im Sinne
Hannah Arendts können ein realistisches Bild der historischen
Wirklichkeit ergeben.

1. Der Kunsträuber, der Verklärer und der Exekutor des
Genozids

Der Kunsträuber Kajetan Mühlmann (1898 — 1958)

Der aus einfachsten Verhält¬
nissen aus dem Oberpinzgauer
Uttendorf stammende Ka¬
jetan Mühlmann war einer der
rücksichtslosesten NS-Oppor¬
tunisten und Karrieristen und
einer der umtriebigsten und
abscheulichsten Kunsträuber
des NS-Regimes. Erbesuchte in
Salzburg das Gymnasium. Dort
war einer seiner Mitschüler der
spätere Schriftsteller Karl Hein¬
rich Waggerl, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband.?

Nach dem Studium der Kunstgeschichte schaffte er es, als Wer¬
befachmann unter Max Reinhardt für die Salzburger Festspiele zu
arbeiten. Seine Frau Leopoldine Wojtek schuf das offizielle Plakat
der Salzburger Festspiele. Schon in den späten Zwanzigerjahren war
Mühlmann mit Hermann Görings Schwester Olga befreundet und
wurde von Göring aufden Obersalzberg eingeladen. Als Hitler am
12. Februar 1938 dem österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg
das Berchtesgadener Abkommen aufzwang, saß Mühlmann mit
am Tisch. Nach der Machtergreifung Hitlers in Österreich wurde
Mühlmann Staatssekretär und bekleidete damit das höchste Amt,
das ein Salzburger in der NS-Zeit ausübte.

Nach der Kapitulation Polens setzte Hermann Göring den
Kunstexperten Mühlmann zum „Sonderbeauftragten für den
Schutz und die Sicherung von Kunstwerken in den besetzten
Ostgebieten“ ein. Die beschönigende „Sicherstellung“ war in
Wirklichkeit die systematische Plünderung aller Kunstgüter in
Polen. Mehr als 500 Schlösser, 15 Museen und 102 Bibliothe¬
ken wurden nach wertvollen Beständen durchsucht. Unter den
konfiszierten Kunstgütern befand sich auch der von Veit Stoß
geschaffene Hochaltar der Krakauer Marien-Kathedrale. Nach
nur sechs Monaten hatten die Nazis unter Mühlmanns Leitung 95
Prozent der polnischen Kunstgüter „sichergestellt“. Die wertvollste
Kunstsammlung gehörte der polnischen Prinzessin Czartoryska
in Krakau mit den großen Drei: Leonardo da Vincis „Dame mit
Hermelin“, Raffaels „Portrait eines jungen Mannes“ und Remb¬
randts „Landschaft mit dem barmherzigen Samariter“. Mühlmann