Casablanca-Monate verbringt sie im Untergrund, im Lichtschacht
eines kleinen Hotels.'? Sie ist unsicher und in finanziellen Nöten,
unternimmt jedoch regelmäßige Stadterkundungstouren.”
Im November 1941 tritt sie auf der Serpa Pinta eine vierwöchige
Schiffsreise nach Mexiko an. Im Hafen von Veracruz erwarten
sie Gisela Kisch und Theodor Balk. Seinem schon am Steg aus¬
gesprochenen Zimmerangebot leistet sie unverzüglich Folge. Sie
werden ein Paar, ziehen mehrmals gemeinsam um.”!
Reinerovä fühlt sich wohl in Mexiko, genießt die Zeit mit
altbekannten Freunden und Kollegen.” Sie gehört dem kultur¬
schaffenden Kreis der deutschsprachigen Exilierten an, ist aktives
Mitglied des Heinrich-Heine-Klubs und der Bewegung Freies
Deutschland, schreibt Beiträge für deren gleichnamige Zeitschrift
sowie für die Demokratische Post. Den inhaltlichen Fokus legt sie
auf die Tschechoslowakischen Republik.”
Wiewohl integriert in die Gruppe der deutschen Kommunisten,
war und blieb ich „die Tschechin“. Auf diese Nuance legte ich selbst
Wert und war heilfroh, daß ich mit dem gehässigen, mir unklaren
und sinnlos erscheinenden Kleinkrieg von beiden Seiten nichts ge¬
mein hatte.”
Mit Egon Erwin Kisch und Otto Katz wird sie im Frühjahr
1942 Griindungsmitglied und Redakteurin des Chechoslovaco
en Mexico, einer spanischsprachigen, an die tschechoslowaki¬
sche Diaspora gerichteten Zeitschrift.°° Herausgegeben wird sie
von der Gesandtschaft der tschechoslowakischen Exilregierung
in Mexiko Stadt, bei der Reinerovä seit Anfang 1941 angestellt
war. Bald daraufbegründet sie außerdem den Exilverlag El Libro
Libre mit, in dem u.a. Kischs Marktplatz der Sensationen und
das Schwarzbuch gegen den Naziterror in Europa verlegt werden.
1943 heiratet sie Theodor Balk. Der Kontakt zu ihrer Familie
kommt in Mexiko vollständig zum Erliegen.”° 1944 erfährt sie
aus einem Brief, dass ihre gesamte Familie und sieben Verwandte
von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Der Vater in The¬
resienstadt, die Mutter, ebenso wie ihre beiden Schwestern und
ihr Neffe, in Auschwitz. Ihr Ehemann hofft indes noch darauf,
seiner Mutter in Jugoslawien wiederzuschen.
Wir wollten beide so bald wie möglich zurückkehren. Für mich
ergab sich allerdings eine neue Schwierigkeit. Mein Mann hatte
ganze sechzehn Jahre fern seiner Heimat verbracht, nun konnte er
Jugoslawien wiedersehen. Ich war seine Frau und ging mit ihm.’
Unmittelbar nach Kriegsende brechen die beiden nach Belgrad
auf, wo sie ihre Tochter Anna gebärt. Im Herbst 1946 beziehen
sie eine Wohnung in der Uzun Mirkova Nr. 5. Reinerovä arbeitet
in der tschechischen Redaktion von Radio Belgrad mit. Sie fühlt
sich unsicher und fremd®, erkrankt erstmals an Krebs”, denkt
an den Umzug nach Prag.
Die politischen Verhärtungen zwischen der Sowjetunion und
Jugoslawien im Jahre 1948 nimmt die Familie schließlich zum
Anlass, um den Wohnort nach Prag zu verlegen. Der Anfang in
ihrer alten Heimat fällt ihr, wie sie Martin Dorry und Hans-Ulrich
Stoldt in einem Interview erzählt, schwer:
Ich habe mich schlecht zurechtgefunden, denn ich war zu Hause
und war nicht Zuhause. Ich hatte niemanden mehr (...) Da stand
dieses Prag, als ob nichts passiert wäre.”
Sie findet Arbeit beim Prager Rundfunk, wird im Frühling 1952
ohne Angabe stichhaltiger Gründe wieder entlassen. Kurze Zeit
später wird sie zu Hause verhaftet, ins Gefängnis Ruzyni überführt.
15 Monate verbringt sie dort in martervoller Einzel- und Doppel¬
haft. Ob fehlender Beweise wirft man ihr Kontakte zum Westen,
Iloyalität und Zionismus vor.?' In der Gefangenschaft bricht sie
mit den sozialistischen Idealen und der Kommunistischen Partei.
Zweifellos hätte ich schon viel früher gegenüber kritischen Stimmen
wachsamer, gegenüber sachlich fundierten Einwänden empfangsbe¬
reiter sein sollen. Zu lange war ich nicht imstande, die Ideale meiner
Jungen Jahre, die Hoffnung nach so viel Unglück aufzugeben, zu lange
wünschte ich inständig, daß die Farben der Sonne die Farben der
Nacht überstrahlten. Ein Traum, der ohne Gnade verjagt wurde.”
Die Monate in Ruzyni gelten ihr als die schrecklichsten ihres
Leben. Sie widmet ihnen ein eigenes Buch, nennt es Alle Farben
der Sonne und der Nacht.
Im Sommer 1953 kommt sie frei, folgt ihrer bereits delogierten
Familie nach Pardubice. Als Laborant verrichtet Theodor Balk
Arbeit in einem Krankenhaus, sie als Abteilungsleiterin in einer
Fabrik für Glas und Porzellan.?? Nach fast zwei misslichen Jahren
kehren sie Mitte der 1950er nach Prag zurück.’ Man teilt ihnen
eine Wohnung im Industriestadtviertel Soemichov-Kosire zu, in
der sie bis ihrem Tod wohnhaft bleibt.’
1956 veröffentlicht sie ihren ersten Roman Grenze geschlossen,
erzählt darin von Inhaftierung und Flucht. Sie findet Arbeit im
Prager Orbis-Verlag, redigiert die deutschsprachige Zeitschrift Im
Herzen Europas. Auf Zureden eines Bekannten wird sie wieder
Mitglied der Kommunistischen Partei, nimmt an Parteiversamm¬
lungen teil, schließt sich der Erneuerungsbewegung der KP’Isch
an.’ Der Prager Frühling wird niedergeschlagen, sie aus der Partei
ausgeschlossen. Man erteilt ihr Publikationsverbot, hebt es erst
1989 wieder auf. Bis dahin übersetzt sie Fachliteratur, publiziert
unter Pseudonymen und arbeitet als Simultandolmetscherin bei
medizinischen Kongressen.”
Infolge der ständig wiederkehrenden Krebserkrankung durch¬
leidet sie in Prag regelmäßige Behandlungsphasen, dezidiert ih¬
nen die Erzählung Tragischer Irrtum und richtige Diagnose* Sie
erscheint 1998.
Ab Mitte der 1990er veröffentlicht sie einige autobiografische
Erzählungen und Romane. Um die Jahrtausendwende ist die
letzte schreibende Vertreterin des Prager Deutsch. 1999 erhält sie
von der Deutschen Schillerstiftung als erste Schriftstellerin den
Schiller-Ring. Von der tschechischen Regierung wird sie 2001 mit
der Verdienstmedaille 1. Ranges bedacht. Die Stadt Prag verleiht
ihr 2003 die Ehrenbürgerschaft. Im Jahr 2006 erhält sie von der
Bundesrepublik Deutschland das Große Bundesverdienstkreuz.
2004 gründet sie das Prager Kulturhaus der deutschsprachigen
Autoren. Bis zu ihrem Tod am 27. Juni 2008 leitet sie es selbst.
Regina Hemetsberger, geb. 1985 in Oberösterreich, Studium der
Publizistik und der Internationalen Entwicklung in Wien, Lyon und
Mexiko. Arbeitet in der Internationalen Zusammenarbeit. Lebt in
Schörfling am Attersee.
1 Lenka Reinerovä: Zu Hause in Prag— manchmal auch anderswo. Erzäh¬
lungen. Berlin: Aufbau 2001, 11f.
2 Ebenda, 13.
3 Fbenda, 10f.
4 Ebenda, 10-12.
5 Ebenda, 16. Sowie: Lenka Reinerovä: Alle Farben der Sonne und der
Nacht. Berlin: Aufbau 2005, 63.