„Das ist eine Fügung“ — eine Redewendung, die ich öfter aus
ihrem Mund gehört habe.
Es war eine Fügung, dass sie, irgendwann Ende der Sechziger¬
jahre meinem — damals noch nicht — Mann in der Schottengasse
begegnet ist (wo damals das Büro des österreichischen Zweigs
des Internationalen Versöhnungsbunds war, bei dem er Halbzeit
angestellt war) und er mich ihr und sie mir vorstellte: Frau Frank.
Einmal hat sie mich eingeladen. Ich wollte etwas mitbringen.
Mein Mann hat mir gesagt: Sie ist Vegetarierin — da hab ich mir
gedacht: Topfengolatschen — also das war nicht das, was sie sich
unter gesunder Ernährung vorgestellt hat. Sie hat mir, mit ihren
vier Schneidezähnen, zwei oben, zwei unten, erklärt, dass man von
einem Apfel fast alles essen kann; dass das Innere der Apfelkerne
schr nahrhaft ist; vom Apfelstängel kann man den unteren Teil
abkiefeln, der obere Teil ist zu hart. Sie hat mir erzählt von einem
KZ-Häftling, der die Haft überlebt hat, weil er von dem Unkraut,
das er jäten musste, heimlich die genießbaren Pflanzen gegessen
hat. Sie hat mir (das muss aber später gewesen sein) empfohlen,
als Kur für den kranken Darm meines Mannes einen Brei aus
Eichel-Samen zu kochen; das hat mir eingeleuchtet, ich bin, das
war im Vorfrühling, in den Prater gegangen, hab aber nur eine
Hand voll Eicheln gefunden, nicht genug, um einen 100-kg¬
Mann satt zu bekommen, und hab das Rezept nicht ausprobiert.
In einem Zinshaus im 5. Bezirk im letzten Stock auf einer
geräumigen Plattform vor der Tür zum Dachboden hat sie mir
gezeigt, wo sie ihre Gymnastik-Übungen macht. Wenn jemand
heraufkommt, hört sie das und kann rechtzeitig unaufällig weg¬
gehen. Sie hat mich auf die Stiegen aufmerksam gemacht: wie
bequem, mit niedrigen, breiten Stufen, wie in den Stadtbahn¬
Stationen von Otto-Wagner — diese Stufen kann man auch im
Finstern gehen.
Sie hat mir eine Sammlung „Völkischer Beobachter“ angeboten.
Wir haben damals in einer ca. 25 m’-Garconniere gewohnt mit
einem kleinen Kellerabteil. Ich habe dankend abgelehnt: wenn
ich den Völkischer Beobachter lesen will, kann ich in die Nati¬
onalbibliothek gehen. Mein Mann hat, in den Fünfzigerjahren,
Schule geschwänzt und in der Nationalbibliothek den Völkischen
Beobachter gelesen, weil er wissen wollte, worüber die Erwachse¬
nen nicht gesprochen haben, wie es damals wirklich war. Heute
denk ich mir, sie wollte wissen, was damals passiert ist, was ihr
damals passiert ist. Ich hab ihr das Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstands empfohlen, sie hat sich das angehört,
aber letztlich zu einer offiziellen Stelle kein Vertrauen gehabt. Sie
hat zu diesem Staat kein Vertrauen gehabt.
Von einer kostbaren Jugendstil-Vase hat sie mir erzählt, die ihr,
ich weiß nicht wer, für ich weiß nicht welche Dienstleistungen
gegeben hat, mit der sie nichts anfangen kann — wenn sie die am
Flohmarkt verkaufen wollte wäre sie als Hehlerin verdächtig.
Sie hat meines Wissens von Gelegenheits-Arbeiten gelebt, Stie¬
genhäuser reinigen, Deutsch-Unterricht...
. ich bin jetzt bei 3 + 4 Kindern = 7 Stück von 2 Familien - in
einer feuchten souterrain Wohnung — — die Eltern sind zu plötzlichen
Spitalsbesuch abgereist [...] —— wieso immer noch feuchte Wohnungen
für Kinder !! — — — man muß das selbst erleben — — — — so viele !!!
solche Wohnungen — — — — habe viel Arbeit!
In der Nacht des 20. September 1976, nach der Fernseh-Ubertra¬
gung des Box-Weltmeisterschafts-Kampfs Muhammad Ali (Cassius
Clay) gegen Ken Norton? wurde sie überfallen und verletzt in ein
Krankenhaus eingeliefert. Bis dahin hatte sie offensichtlich jeden
Kontakt mit öffentlichen Einrichtungen vermieden.
Hildegard Goss-Mayr, Reisesekretarin, später Ehrenpräsidentin
des Internationalen Versöhnungsbunds, hat sich nach ihrer Ent¬
lassung (gegen Revers?) um einen Platz in einem Caritas-Heim
bemüht
.. ich hätte nie in dem Heim sein können, weil das 5000 — 6000
Schilling im Monat kostet [...] u. ja auch das Heim nicht brauche.
[...] ich bin ja nicht bettligerig ...°
Goss-Mayr hat sie letztlich bei den Kleinen Schwestern von
Jesus in Regelsbrunn untergebracht:
Die Hildegard hat gefragt, ob die Anna, die Frau Frank, ob die zu
uns kommen kann, wenn sie vom Spital heraus kommt. Dann haben
wir ja gesagt und dann ist sie gekommen und sie war sehr schlecht
beinand, an das kann ich mich erinnern. Da haben wir damals
eine Krankenschwester da gehabt und sie hat gesagt, sie hat nur 30
bis 0 Puls. Sie war ganz schwach, und trotzdem haben sie sie aus
dem Spital entlassen. Sie war wirklich ganz schwach. Ich glaube, sie
wollte nicht |im Spital, E.F.] bleiben. Die, Claude Christine hat sie
geheifsen, hat gesagt, ich weiß nicht, ob die morgen noch lebt, weil
sie hat wirklich nur 30/33 Puls. Aber sie hat immer wieder noch
gelebt... Sie ist aber nicht lange geblieben. Ich weiß nicht genau,
vielleicht eine Woche oder zwei Wochen, vielleicht drei Wochen, ich
weiß es nicht... Dann hat sie der Engelbert |Pöcksteiner] irgendwann
einmal geholt. An das kann ich mich erinnern.“
... der zwangsweise Aufenthalt bei den kl. Schwestern war für mich
total zerstörend! (Wohg verloren u.s.w. u. gesundheitlich schlecht?
Bei den Kleinen Schwestern konnte sie nicht bleiben — ich
nehme an: Als Gast wollte sie nicht bleiben, dafür war sie zu
bedürftig nach Unabhängigkeit, und als Postulantin konnten
die Kleinen Schwestern, damals alle schätzungsweise halb so alt
wie sie, sie nicht aufnehmen, dafür war sie zu dominant. Schon
ihre Vorstellung, jeder solle allein sein Essen essen, ist mit der vita
communis der Kleinen Schwestern nicht kompatibel. (So weit,
was mir vom Hörensagen in Erinnerung ist.)
„... sie hat sich nie vorstellen können, dass sie einmal in einer
Gemeinschaft lebt“, sagt die Kleine Schwester Claire Frederique
von Jesus.°
„... also bitte keine ‚wohlmeinenden‘ ??? Sorgen um mich ...
Polizei hat auch alles genau + gut geordnet, weil es Überfall war“,
schreibt Frau Frank.’
Wie sie vor dem Überfall gelebt hat, kann ich mir nur vage
vorstellen. Wie sie nach dem Überfall zurechtgekommen ist, weiß
ich nicht.