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Im November 1976, ich war inzwischen verwitwet, kam sie mich
besuchen und wir haben schr lange über alles Mögliche geredet,
und sie hat mir etwas aus ihrem Leben erzählt:

Für ihre Mutter war das Um und Auf das Wohlergehen ihres Man¬
nes. Eine Extremsituation: Nach einer Totgeburt war die erste Frage
ihrer Mutter, ob der Braten für den Herrn noch im Rohr sei.

Und ihr Vater hat Anna gehasst, weil sie aufmüpfig war und ihre
Mutter gegen ihn aufgehetzt hat; sie hat sich als Gouvernante, als
Erzieherin von zu Hause selbständig gemacht; er hat der Mutter den
Umgang mit ihr untersagt; und nach seinem Tod hat ihr jüngerer
Bruder die Funktion des Vaters übernommen, der Mutter gesagt — das
wäre dem Vater nicht recht. Schließlich ist sie draufgekommen, dass
es der Mutter so recht war, dass sie es gar nicht anders haben wollte.
Nur einmal hat die Mutter, den Einwänden des Bruders zum Trotz,
eine Einladung angenommen zu einem Ausflug, ich glaube auf den
Kahlenberg, damals, stell ich mir vor, noch ohne Höhenstraße, und
Blumen gepflückt und nachher ein Gedicht geschrieben auf sie, Anna,
und sie mit einem Edelweiß verglichen, das ohne Erde zwischen den
Felsen blüht. Das Gedicht ist, wie so vieles, verloren gegangen.

Ihr Vater war Jäger beim Grafen NN und das aufgeweckte Mäd¬
chen ist mit den Gräfinnen gemeinsam erzogen worden; hat dann
die jungen Gräfinnen angestiftet, auf die Bäume zu klettern und
Äpfel zu brocken — was der Jägerstochter noch anstehen mag, den
jungen Damen aber unmöglich. Daher ihre Französischkenntnisse,
ihre Bildung.

Ihr Mann war Förster®
Die Kleine Schwester Claire Frederique ergänzt:

Und ich kann mich erinnern, tagsüber, wenn wir einmal in den
Hof gegangen sind, spazieren, hat sie mir erzählt, wie man diese
Gründüngung macht. Ihr Mann war der erste, der mit der Grün¬
düngung sich beschäftigt hat. Und da hat sie dann erklärt, dass man
die Gräser nicht wegschmeifst sondern eingräbt, wenn sie dürr sind.
Aber nachher war ja das gang und gäbe auf den Feldern, man hat sie
ja dann extra angebaut, die Gründüngung, den Klee und so, damit
man den einackern kann. Aber vor 30 Jahren, da war das noch nicht
so, die Idee von der Gründüngung.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes hat sie mit ihrem Sohn
alleine gelebt und das Gut alleine bewirtschaftet.

Die Nazi haben gefunden, eine Frau könne die Wirtschaft nicht
allein führen und sie exmittiert.'°
Sie hat in Wien eine schöne Wohnung gehabt.

Die nächste mir bekannte Station ist Hamburg, wo sie als Über¬
setzerin gearbeitet hat. Dort holte die SS sie eines Tages von ihrem
Arbeitsplatz ab; es handle sich nur um eine Unterschrift, hieß es;
sie wurde in ein Zimmer geführt; dort musste sie warten. Es wurde
kaum gesprochen, durch Handbewegungen wurde sie aufgefordert
mitzukommen, dorthin zu gehen, aufzustehen, sich niederzusetzen
(mir scheint das Methode: einen Menschen nicht anzusprechen, ihm
das Gespräch, die Auskunft zu verweigern, ihn zu behandeln, als
Unperson zu behandeln). Sie sagt, die SS-Männer waren (in dem
Zusammenhang habe ich das Wort noch nie gehört) korrekt. Man
ließ sie warten, stundenlang, über Nacht?, wahrscheinlich schlief
sie auch ein; dann wurde sie über lange Gänge geführt, mit dem
Aufzug hinauf, hinunter. Sie beschreibt, wofür eine, die fast täglich
mehrmals mit dem Aufzug fährt, ziemlich abgestumpft ist, das ei¬
gentlich Unheimliche — bewegt zu werden und dabei recht eingeengt
stillzustehen. Woran merkt man, ob man hinauf oder hinunter geführt
wird? Wohin es geht? Schließlich landete sie in einem Raum, ich
nehme an einem dunklen Keller, sie beschreibt den Atem und das

Empfinden, mit hundert oder tausend Menschen in einem Raum zu
sein. Sie nennt es ihren „Kontakt mit der Menschheit“. Wahrscheinlich
kam sie zum erstenmal mit Unbekannten in körperliche Berührung.
Dann das Verhör:

„Sie heißen...“

„Steht das nicht auf Ihrem Papier“ — eigentlich selbstverständlich,
wenn das Gegenüber, das noch dazu das Zusammentreffen veranlasst
hat, sie nicht begrüßt und sich nicht vorstellt.

„Sie sind aus Wien. Ihre Landsleute haben Sie angezeigt‘, da scheint
etwas Verachtung eines Bürgers der freien Hansestadt gegen die 150%¬
igen Neudeutschen mitgeklungen zu haben. „Sie haben gesagt, jetzt
(nach dem Überfall auf die Sowjetunion) ist Deutschland verloren.
Wie haben Sie das gemeint?“ Und er versucht, ihr in den Mund zu
legen: „Aus Sorge um Deutschland.“

Sie: „Wie ich es gesagt habe.“
„Das ist Wehrkrafizersetzung. “

Worauf’ sie mit ihm über deutsche Grammatik zu diskutieren be¬
ginnt: „Zersetzen ist rückbezüglich, etwas zersetzt sich, nicht ich
kann etwas zersetzen.“

Dann wieder lange Gänge, was weiter geschah ist unklar— (Bom¬
bardement des Gefängnisses? Ohnmacht?) — ihre These: „Der Mensch
erleidet nur so viel, wie er leiden kann.“

Jedenfalls findet sie sich auf einem Trümmerhaufen auf der Strafe
wieder, sieht dort die roten Anschläge „Hingerichtet wegen Wehr¬
krafizersetzung“ — ihre eigene Hinrichtungsanzeige. Und nachdem
sie während der ganzen Ereignisse keinen Harn- und Stuhldrang
gehabt hat, erleichtert sie sich dort. Ihr erster Tod. Seitdem ist ihr
Leben, scheint mir, nicht mehr ganz von dieser Welt; es kann ihr
nichts geschehen, sie ist schon einmal gestorben und mehr kann ihr
nicht geschehen. Seitdem ist sie immer heimlich, von einem Versteck
zum anderen unterwegs.

Wie sie ihren Sohn wiedergefunden hat, weiß ich nicht, wie sie nach
Österreich — in die Ostmark — gekommen ist, weiß ich nicht.
Zwei Episoden aus dieser Zeit:

Nach einer Nacht im Wald waschen sie sich in einem Bach. Eine
SS-Streife kommt, vier Männer, zum Verstecken keine Chance. Ihr
Sohn, halbwüchsig, ich glaube an die 14, geht auf die Männer zu und
fragt sie nach dem Weg ... Im Dorf hören sie dann im Vorbeigehen
„Landstreicher... anzeigen...“ „Nein, die haben doch gerade mit
der SS geredet...“

Und eines Tages redet ihr Sohn jemanden über den Gartenzaun hin
an: Was er dort macht? Und: seine Mutter kann das besser — dann soll
sies doch machen — und was bekommt sie dafür — Arbeitsbedingungen
ausgehandelt — ja, aber wir haben keine Papiere, keine Lebensmiitel¬
karten — macht nichts, und schlafen können sie im Schuppen. (Also
das war offensichtlich ein so hohes Tier, daß er es sich leisten konnte,
den hohen Tieren vom Nachbarrudel eins auszuwischen und Leute
ohne Papiere illegal zu beschäftigen.)''

Ihren Sohn hat sie zu Kriegsende verloren — Volkssturm, Wehr¬
dienstverweigerung, Denunziation — er war, ich weiß nicht wo
auf einer Alm versteckt und ist entdeckt und erschossen worden. '?

Wie sie ohne den Sohn, ohne Dokumente — offiziell war sie ja
tot — überlebt hat? Ich weiß es nicht. Im Untergrund, ein U¬
Boot, das nicht mehr aufgetaucht ist, immer von einem Versteck
zum anderen unterwegs’, hat sie möglichst vermieden Spuren
zu hinterlassen. Sans papiers.

Dezember 2017 59