Kardinal Innitzer hat zunächst sein Kirchenvolk durch ein em¬
phatisches Begrüßungstelegramm an Hitler geschockt. Er übt
aber sofort tätige Reue, indem er eine „Hilfsstelle für nichtarische
Katholiken“ gründet. Denn seit dem Anschluss gelten natürlich die
deutschen Gesetze, darunter auch die „Nürnberger Rassengesetze“,
die feststellen, wer Arier und wer Jude ist. Volljude ist, wer vier
jüdische Großeltern hat, Halbjude, wer zwei aufweist, Viertelju¬
de, wer nur einen jüdischen Großelternteil hat. Die Konfession
spielt keine Rolle. In Österreich sind aber in den letzten Jahren
und Jahrzehnten viele Juden zum Katholizismus übergetreten,
besonders im Ständestaat. Die sind jetzt zwar Christen, aber der
„Rasse“ nach Juden, dürfen in den meisten Berufen nicht mehr
arbeiten, verlieren ihre Wohnungen und werden in Konzentra¬
tionslager verschickt. Auswanderungswilligen Juden wird viel
Geld abgepresst, mehr, als die meisten besitzen. Die stehen jetzt
Schlange vor internationalen Hilfsorganisationen wie „Quäker“
oder „Gildemeester“, manche können auch nur ihre Kinder allein
ins Ausland schicken, durch „Safe the Children“. (Ich kann noch
nicht Englisch, aber diese Namen sind mir geläufig, man hört
sie ja jeden Tag.) Für die Katholiken unter den armen Teufeln
zerspragelt sich jetzt der Kardinal, verbraucht zunächst sein ei¬
genes Geld und das der Diözese, soweit er darf, und geht dann
öffentlich betteln. Trotzdem ist klar, dass die Christlichsozialen
mit Ja stimmen werden.
Auch der Dr. Renner teilt in einem Zeitungsinterview mit, dass
er mit Ja stimmen wird, aber ihm ist natürlich gelungen, den
Passus „... auch wenn der Anschluss in anderer Form vollzogen
wurde, als ich mir gewünscht habe ...“ in den Text zu bringen.
Die Nazis haben ihn angeblich mit Drohungen gegen seine in¬
haftierten Freunde unter Druck gesetzt. Es ist aber egal, denn
man weiß inzwischen, dass diese Plebiszite immer mit 99 Prozent
Ja-Siimmen ausgehen, und bezweifelt, dass die Simmen über¬
haupt gezählt werden. Die meisten Leute nehmen an, dass Karl
Renner mit seiner Wahlempfehlung den Genossen an der Basis
mitteilen will, dass es klüger sei, mit Ja zu stimmen. Die Leute
erwarten eine Stellungnahme, und andere Möglichkeiten hat er
nicht. Meine Eltern als jüdisch und jüdisch versippt dürfen zwar
nicht abstimmen, gehen aber trotzdem zum Wahllokal.
Nach Wahlschluss ruft der Leiter unseres Wahlsprengels freudig
in die wartende Menge: „Zwei Schweine haben wir nur gehabt!“
Die Nazis und die Märzveigerln applaudieren, aber der Beifall
ist schon sehr ausgediinnt, denn die Anschlusseuphorie verfliegt
rasch. Am nächsten Tag erfahren wir aus der Zeitung, dass 99
Prozent der deutschen Wahler mit Ja gestimmt haben und dass
alle unserem Führer danken, Sieg Heil. Die Fahnen und Girlanden
werden abmontiert, Aufmärsche mit Blasmusik und Sprechchören
finden nicht mehr statt. Wien wird zur grauen Provinzstadt, die
es bis weit in die 1960er Jahre hinein bleiben soll.
Was „Sieg Heil“ heißt, weiß ich noch immer nicht, aber ich wage
nicht mehr zu fragen, die Erwachsenen sind jetzt immer so genervt.
Auch eine andere Wissenslücke beschäftigt mich: Ich brauche
monatelang, bis ich begreife, dass „der Hitler“, „der Führer“ und
„der Tapezierer“ ein und dieselbe Person sind. Vom Führer reden
die Nazis, Hitler sagen meine Mutter und die anderen Frauen,
mein Vater sagt immer nur „der Tapezierer“. Viel später erfahre
ich, dass sich diese abwertende Bezeichnung auf Hitlers Ambitio¬
nen als Maler bezieht. Es gibt auch Leute, die den Namen Hitler
überhaupt nicht aussprechen und sich bekreuzigen, wenn er etwa
Trude Waehner: Sacrificio Cristiano o la Sinagoga, Holzschnitt
im Radio fällt. Sie sagen, er sei der „Antichrist“, was immer das
heißen mag.
Es kommt jetzt oft vor, dass Bekannte, denen meine Eltern be¬
gegnen, auf die andere Straßenseite gehen oder wegschauen, um
nicht grüßen zu müssen. Meine Mutter ist gekränkt und empört,
aber mein Vater sagt: „Du musst das verstehen, die Leute haben
eben Angst.“
Die Reichsdeutschen werden allgemein Piefkes genannt, obwohl
sie eigentlich nur durch ihre Sprache auffallen. Sie gelten als bes¬
serwisserisch und überheblich, außerdem kaufen sie noch immer
die Geschäfte leer.
Die Zeitungen sind zensuriert und berichten alle das Gleiche
im gleichen Wortlaut. Dafür gibt es jetzt den „Stürmer“, der
auf meinem Schulweg angeschlagen ist und endlich mit vielen
Bildern ganz genau die Morde beschreibt, über die ich zu Hause
keine Zeitungsberichte lesen darf. Dass ich den lese, dürfen meine
Eltern natürlich nicht wissen!
Die Märzveilchen welken zusehends, die frohen Gesichter sind
verschwunden. Die auf den Anschluss gesetzten Hoffnungen
haben sich nur in Einzelfällen erfüllt. Die Bundesländer werden
in „Gaue“ umgewandelt, Ober- und Niederösterreich heißen
jetzt Ober- und Niederdonau, an den Namen Österreich erinnert
nichts mehr. Auch zahlreiche Straßen sind umbenannt, aber die
meisten Leute nehmen das nicht zur Kenntnis und verwenden
die gewohnten Namen. Wer sich nicht auskennt — wie etwa die
Piefkes —, dem geschicht eben recht!
So eine Gemeinheit! Alle meine Schulfreundinnen haben schulftei,
weil sie zur Aufnahmsprüfung gehen, nur ich bin nicht angemeldet
worden, weil wir doch auswandern wollten. Jetzt soll ich als einzige
in die Schule gehen? Die Mutter einer Freundin nimmt mich
mit, vielleicht kann ich die Prüfung noch mitmachen. Ich darf sie
mitmachen und bin die einzige, die zur mündlichen Prüfung nicht
antreten braucht, weil die schriftliche so gut war. Leider werden
wir in die schöne freundliche Schule dann nicht aufgenommen,
weil sie in ein Knabenkonvikt umgewandelt wird, sondern an
eine Mädchenschule überwiesen, die statt des Lehrplanes eines
humanistischen Gymnasiums den einer „Frauenoberschule“ bietet,
mit Handarbeiten als Hauptfach und Latein ab der fünften Klasse.
Das ist zwar schlecht für mich, denn mir haben sie die Noten
in den „Weiblichen Handarbeiten“ immer geschenkt, weil ich
in Deutsch und Rechnen Klassenbeste war, das rächt sich jetzt.
Aber sonst ist diese Ausbildung unvergleichlich besser, weil da
ein Mädchen wirklich alles lernt, was es später brauchen wird:
Kochen, Bügeln, Nähen, Säuglingspflege, aber auch Stenographie
und Maschinschreiben. (Die Arbeitskraft einer so ausgebildeten