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Hector Berlioz

Sein Englischhorn öffnet
Die Tore

Zum Hören

Eines Lilienklanges.

Timo Brandt

Charles Ofaire ist Kulturhistoriker, Sprachwissenschaftler und
vielseitiger zweisprachiger Autor aus dem französisch-schweize¬
rischen Jura. Verfasser auch von Romanen und Übersetzer von
Sigmund Freud und Franz Kafka ins Französische.

Vielen ist sie vor allem wegen ihrer Bücher „Spieltrieb“ und „Cor¬
pus delict“ bekannt. Wenn es um ihre zeitkritischen Beiträge geht,
kennen die meisten nur das Buch, welches sie 2009 zusammen mit
llija Trojanow geschrieben hat: „Angriff auf die Freiheit: Sicher¬
heitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen
Rechte“. Juli Zeh gilt als eine der innovativsten und gleichzeitig
umstrittensten Romanautorinnen im deutschsprachigen Raum
—in Bezug auf ihr sonstiges Engagement wird sie regelmäßig als
Datenschützerin abgestempelt. Doch ihre Essays, ihre Zeitungs¬
beiträge und Reden, gesammelt in dem Band „Nachts sind das
Tiere“, weisen weit über diesen Aspekt hinaus. Juli Zeh zeigt sich
in diesen Texten nicht bloß als eine Gegnerin des wachsenden
Überwachungsstaates oder als Verfechterin eines Code Civil für den
neuen Raum des World Wide Web, sondern vor allem und zuerst
als eine großartige Kennerin und Verteidigerin des Individuums.

Unter Intellektuellen ist das Individuum gerade nicht besonders
populär. Kein Wunder, es lässt sich nicht so einfach in größeren
Maßstäben denken, in Systeme und Analysen einbinden und
deshalb spricht man lieber über Begriffe wie Gesellschaft, über
Volks- und andere Gruppen, über Stigmata, Geschlechter, Abs¬
traktionen. Es ist selten geworden, dass eine öffentliche Person (die
kein Künstler ist und dadurch das Individuum quasi verkörpert)
das Individuum konsequent vertritt.

Dabei ist das Individuum alles, was wir haben. Ideologien,
Staaten, Ideen, Religionen und glorifizierte Persönlichkeiten,
ihnen gehören die Geschichtsbücher. Aber nichts davon kann
irgendeine Form von Wirklichkeit beanspruchen, wenn man es
nicht mit dem Beispiel eines Individuums verknüpft. Der einzelne
Mensch ist die größte Ausformung des Lebens, die möglich ist —
alles Weitere sind Abstraktionen, Begegnungen, Verknüpfungen,
die zwar ihren eigenen Wert und ihre eigene Kraft und Präsenz
besitzen, aber ohne die individuellen Teilhaberschaften letztlich
nur eine reduzierte Form der Ereignisse darstellen — eine gemachte
Erinnerung, ohne jemanden, der sich erinnert.

Die Rechte des Einzelnen wurden einer in großen Teilen blutigen
Geschichte abgerungen, und sind ein Lernerfolg aus schlechten Er¬
fahrungen mit überbordender staatlicher Macht.

Juli Zeh verhandelt das Individuum natürlich nicht im luftlee¬
ren Raum, sondern stets anhand konkreter Problematiken und
Entwicklungen. Sie kann allerdings im einen Moment über die
Errungenschaft sprechen, die in der Erklärung der allgemeinen
Menschenrechte liegt (eine Erkenntnis, gleichsam unglaublich
schlicht und doch von unnachahmlicher Konsequenz) und die
nicht einfach so unter gewissen Aspekten verhandelbar sind, nur
um kurz darauf in einem anderen Text das Phänomen des frei¬
schaffenden Computerprogrammierers aufzugreifen und auch
darin die wichtige individuelle Facette zu beleuchten:

70. ZWISCHENWELT

Indem mein Freund FE bei seiner Tätigkeit das Lustprinzip über
das Erwerbsprinzip stellt, betreibt er die Re-Individualisierung seiner
wichtigsten nicht erneuerbaren Ressource: Lebenszeit.

Ich nenne Juli Zeh eine Kennerin des Individuums, weil ihr
diese Hinwendung zum Verbleib des Individuums in beinahe
jedem Text gelingt. Die Unnachgiebigkeit, mit der sie dabei zu
Werke geht, sagt mir ebenso zu wie die vielen Zusammenhänge,
in denen sie problematische Verhältnisse für das Individuum
ausmacht. Es gibt dankbare Ihemen und solche, die weniger
dankbar sind, Themen, bei denen man zwar nicht unbedingt
gegen den Zeitgeist redet, aber schon gegen seine liebgewonnenen
Gewohnheiten. Gerade auch in diese Gewohnheiten dringt Juli
Zeh, gerade hier brilliert sie.

Hier und da schlägt sie manchmal etwas überkritische oder
warnende Töne an, die geradezu ins Sarkastische abzudriften
drohen, überzicht mit ihrer Kritik direkt das ganze Feld, während
ihre Attacke eigentlich einer bestimmten Ausprägung gilt. Aber
auch dann gelingen ihr immer noch vortreflliche Feststellungen,
selbst wenn diese, wie im folgenden Zitat, das Individuum gegen
den feministischen Diskurs verteidigen:

Meist ist es übel ausgegangen, wenn Mentalitäten die Realitäten
zu überholen begannen

Aus vielen Texten könnte man eine gemeinsame Ansicht ziehen:
Die ideologisierte Gesellschaft muss zerschlagen werden. Nicht,
weil Ideologien nur Schlechtes transportieren, aber weil sie alle
dazu neigen, das Individuum als Instanz zu vergessen oder sich
einfach darüber hinwegsetzen. Selbst die Rechtsstaaten Europas
haben dies in den letzten Jahren wieder vermehrt getan und es
ist wohl überflüssig auf die Ignoranz unseres derzeitigen Wirt¬
schaftssystems und unserer Uberflussgesellschaft in Bezug auf
Kollateralopfer und die Würde des Individuums hinzuweisen.
Die meisten Menschen in den so genannten westlichen Ländern
besitzen noch große individuelle Freiheiten, aber am Ende der
meisten Texte wird deutlich, dass diese Freiheit einer ständigen,
unbewussten Bedrohung durch die Ausbreitung ideologische
Diskurse und der daraus folgenden Maßnahmen ausgesetzt ist,

sowie die Erkenntnis, dass es schon immer eine blutige Angelegenheit
war, gesellschaftliche Konflikte auf dem Rücken Einzelner auszutragen.

Diese Erkenntnis destilliert Juli Zeh nicht nur aus den Aus¬
wüchsen der Medienskandale oder den Anti-Terror-Gesetzen
und Maßnahmen, sondern auch aus den Parametern unserer
optimierungsversessenen Gesellschaft. Hunderttausende an
Selbsthilfebüchern für und wider das Erfolgsgeheimnis haben
nichts daran ändern können, dass wir nach wie vor in einer
Größer-Schneller-Weiter-Gesellschaft leben, die nur zwei Ka¬
tegorien kennt - die sich auf viele andere Probleme auswirken,
egal, ob auf die Lohnverhältnisse, die Fremdenfeindlichkeit oder