die häufig auftretenden psychischen Störungen wie Burnout oder
Depression —: Gewinner und Verlierer. Eine Einteilung, die den
Bewegungsspielraum des Individuums, der eigentlich die weite
Welt ist, brutal einschränkt.
Jeder ist seines Glückes Schmied— das verstaubte Sprichwort besitzt
allerhöchste Aktualität, allerdings mit einer fatalen, sehr modernen
Konsequenz: Wer nicht glücklich ist, muss wohl ein schlechter Schmied
sein. Mit anderen Worten: ein Versager. Mit 18 noch Jungfrau? Mit 25
die große Liebe noch nicht gefunden? Mit 30 noch keine erfolgreiche
Karriere angefangen? Mit 40 noch nicht reich? Da hat wohl einer
die Anforderungen nicht erfüllt! Durchgefallen, also unglücklich.
Unglücklich, also durchgefallen. Wer ist heute noch in der Lage, sich
vorzustellen, dass man arbeitslos und glücklich, arm, aber glücklich,
allein und glücklich sein kann? Glück ist kein geheimnisvolles Gefühl
mehr, kein Zauber, der den Menschen wie aus heiterem Himmel in
den absurdesten Situationen befallt, sondern ein gesamtgesellschafi¬
liches Zirkeltraining. Ein Trimm-dich-Pfad, auf dem man adäquate
Leistungen zu erbringen hat.
Überhaupt könnte man Juli Zeh auch als große Darstellerin
der Missverständnisse unserer Zeit bezeichnen. Die Texte im
Buch reichen von 2005-2014, eine Zeit, die viele Skandale und
Entwicklungen zu bieten hat, welche Zeh aufgreift, interpretiert
und in einen auf die menschliche Dimension bezogenen Kontext
stellt. Denn das ist wohl das größte Missverständnis, das sie im¬
mer wieder aufdeckt, klarstellt, verifiziert: der Glaube (indirekt
gepredigt in dutzenden Feuilletons und Diskussionen) man könne
über die Entwicklungen und Errungenschaften, die Skandale und
Maßnahmen, Innovationen und Taten unserer Zeit sprechen und
dabei die menschliche Dimension ausklammern. Kein Zusam¬
menhang ist so groß, dass er sich diese Leerstelle leisten kann.
Das ist das größte Missverständnis, ein himmelschreiendes, ein
gewöhnlich-, geradezu pauschalgewordenes.
Jedes Missverständnis besitzt zwei mögliche Auflösungen. Die eine
heifst Verständnis, die andere Missstand. Der Vorteil des Missverständ¬
nisses gegenüber dem Missstand besteht darin, dass man Erstgenanntes
tatsächlich noch durch Reden bekämpfen kann, was vergleichsweise
einfach und günstig ist. Wir würden künftigen Generationen schon
jetzt einen großen Gefallen tun, wenn wir endlich einsehen woll¬
ten, dass unsere Demokratie besser ist als ihr Ruf. Dann wären wir
nämlich vielleicht bereit, Errungenschaften zu verteidigen, die sich
unsere Vorfahren schmerzhaft erkämpfen mussten.
Trotz all dem, worauf sie sich kritisch einlässt, man hat selten
das Gefühl, Juli Zeh trete als Anklägerin auf. Sie sitzt im Publikum
und kann nicht glauben, was im Prozess, den sie sicht, vor sich
geht. Und warum die Geschworenen nichts unternehmen. Sie
sitzt neben dem oder der Lesenden. Sie hat die Missstände im
Visier, die sie wieder versucht zu Missverständnissen zu machen,
die Missverständnisse darin herauszukehren.
Für wen und wofür? Wenn man im Publikum sitzt, darf man
doch nicht mitbestimmen, was gezeigt wird, oder? Man kann
doch nur sitzen bleiben oder aufstehen...
Politik wird nicht an internationalen Konferenztischen gemacht,
sondern zuallererst in den Köpfen der Menschen.
Die Entwicklungen, die die Dinge bis zu diesem Punkt in der
Geschichte weltweit genommen haben, sind nicht so gekom¬
men, weil die technischen Möglichkeiten und wirtschaftlichen
Errungenschaften es erfordert hätten. Das ist eine geradezu obs¬
kure Behauptung und eine infame Lüge obendtein. Nein, es ist
so gekommen, weil es Menschen gab, die das wollten. Und bei
vielen Dingen (zum Beispiel der Verwendung nuklearer Waffen
zu Kriegszwecken) endete der Auftritt in der Weltgeschichte,
weil es genug Menschen gab, die nicht wollten, dass sie länger
eine Rolle spielen. Man kann dementsprechend nicht nur sitzen
bleiben oder aufstehen und gehen. Man kann versuchen etwas an
der Situation auf der Bühne zu ändern. Nicht nur, indem man
selbst auf die Bühne geht, sondern auch, indem man sich für eine
Art von Vorstellung ausspricht, Missstände nicht Missstände sein
lässt. Sondern das Missverständnis in ihnen erkennt.
Alle diese Texte sind Einwürfe zum Zeitgeschehen, haben aber
oftmals weitreichendere Denkanstöße zu bieten. Es sind wertvolle
Erinnerungen an oft gemachte Denkfehler, Paradigmenluftschlös¬
ser, pragmatistische Pauschalfatalitäten. In komplexen Systemen
den einfachen Weg einzuschlagen, ist eine schr häufige Form
der Ignoranz und es ist schon oft und schnell geschehen, dass
dieser Weg dann zur Hauptverkehrsader erklärt wurde. Und oft
verkümmern dann nicht nur zahlreiche andere Strecken und
Seitenarme, sondern auch die zahlreichen wichtigen Ideen und
Einrichtungen, die an ihnen liegen. Der einfache Weg ist oft nicht
einmal der Weg zu einem Ziel. In ihrem Kommentar zum nach
9/11 ausgerufenen Kulturkampf schreibt Zeh:
Es geht mir also keineswegs um die Sandkastenfrage, wer denn
angefangen habe mit der Schlammschmeifserei. Mein vorherrschendes
Gefühl ist nicht Wut oder Angst, Rachlust oder Scham. Es besteht
vielmehr in lähmender Enttäuschung über die Erkenntnis, dass zwei
Weltkriege und fast fünf Jahrzehnte ernsthafter internationaler Span¬
nungen es nicht geschafft haben, die Prinzipien der Deeskalation auf
Platz Eins unserer Verhaltensmaximen zu heben.
Wie das passieren konnte ist eine andere Frage. Aber am Ende
von vielen Texten kann man nur sagen:
Ein weiterer Fall von Erosion des demokratischen Denkvermögens
wurde identifiziert. Tut was dagegen.
Und man hat das Gefühl mit einem großen Maß an kritischem
Bewusstsein beschenkt worden zu sein. Und einem Buch, das
ich noch oft zur Hand nehmen werde, wenn ich mich mutlos
fühle oder glaube, dass ich mich zwischen zwei Denkfluchten
aufzureiben beginne und eines kurzen Anstoßes bedarf, eines
Fixsterns, der mir zeigt in welche Richtung ich meinen Kopf
wenden soll und kann.
Juli Zeh: Nachts sind das Tiere. Essays. Frankfurt/M.: Schéffling &
Co 2014. 360 5. € 22,95