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beschwichtigen, die das Fähnchen in den Wind hängt, um im
Halbdunkel, im Schatten der anderen auszuharren.
Ich verstehe das alles nicht!

Heute denke ich an jene, die sterben, ohne ihren Glauben zu
kennen, die nicht begreifen, warum sie sich von anderen fernhalten,
warum sie sich nur mit Angehörigen ihrer Glaubensgemeinschaft
zusammentun sollen, die in größte Gefahr geraten, wenn sie sich
in jemanden aus einer anderen Glaubensgemeinschaft verlieben.

Eine solche Religion bestraft eine Frau, die sich in einen Mann
anderen Glaubens verliebt und ihn heiratet. Zugleich erlaubt sie
ihren Familienmitgliedern, ihren Nachbarn und allen, die sie mehr
oder weniger gut kennen, sie für ihre Liebe zu bestrafen. Sie dürfen
sie und ihren Partner sogar töten. Wieviel Blut von Liebenden hat
diese erbarmungslose Erde schon aufgesogen!

Das Absurde daran ist, dass ein solcher Mord vor dem Gesetz
als ehrenvolle Tat gilt. Der Mörder wird zu einer lächerlichen
Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt. Nach diesen sechs
Monaten kann er erhobenen Hauptes das Gefängnis verlassen,
stolz auf seine Tat, und überzeugt davon, dass er die Ehre der
Familie wiederhergestellt, und ihre Schande für Generationen
nach ihm getilgt hat.

Wenn es allerdings einmal vorkommen sollte, dass ein Mann
eine Frau unterschiedlichen Glaubens heiratet, dann besteht die
gesellschaftliche Reaktion höchstens darin, dass seine Familie
versucht, ihn von seiner Frau zu trennen.

Wie ist es möglich, die eigene Heimatstadt, die gleichzeitig
gut und unbarmherzig, vertraut und fremd, nah und fern ist, zu
verstehen? Ich betrachte sie heute, als sähe ich sie zum ersten Mal,
und muss mir schließlich sagen: „Sei’s drum, du wirst sowieso bald
weg sein, Mädchen!“

Weinend lief ich stundenlang weiter, und verabschiedete mich
von allem, und alles verabschiedete sich von mir.

Ich habe oft solche Geschichten gehört, hatte ihnen jedoch nie
Glauben geschenkt. Ich verstand nie, warum die Liebe und der
Glaube von einem Staat, einer Gemeinschaft oder einer Institution
bestimmt werden. Warum dürfen Menschen, die sich das Gewand
einer Religion überwerfen, über unser Leben entscheiden? Wer
hätte gedacht, dass ein Krieg ausbrechen würde, dass ich mich in
Dschalal, der aus einem anderen Land kommt und einer anderen
Religion angehört, verlieben würde. Wer hätte geglaubt, dass ein
Kommentar auf Facebook dazu führte, dass meine Tochter Eve auf
die Welt käme, dass ich um eines einzigen Kusses willen Schlaflo¬
sigkeit, Trennung und das lange Warten auf ein Wiedersehen auf
mich nähme, dass ich alles aufs Spiel setzen und abreisen, mein
Leben und meine Heimat hinter mir ließe.

Ein letztes Mal betrachtete ich meinen Pass und legte ihn in den
Koffer, schrieb einen Briefan Dschalal, um ihm mitzuteilen, dass
ich nun in den Libanon einreisen könne, dass ich voller Zuversicht
sei, und alle meine Papiere vorlägen. Dschalal lebte damals in
Jordanien. Er hatte seine Druckerei im Jemen verloren. Da man
ihn bedroht hatte, sah er sich gezwungen, alles stehen und liegen
zu lassen und nach Jordanien zu fliehen.

In Syrien hätten wir uns nicht treffen können, nach Jordanien
durfte ich nicht einreisen, weil sich die jordanischen Behörden
quer stellten. Für Ägypten brauchte man ein Visum, es blieb also
nur der Libanon, in den wir beide einreisen konnten.

Ich packte meinen Koffer, aber was passt schon in einen Kof¬
fer! Eigentlich wollte ich Weinreben-Stecklinge mitnehmen.
Schließlich packte ich einen syrischen Wein ein — für Dschalal

und unsere Freunde, die mit ihm auf mich warteten. Er war vor

80 _ ZWISCHENWELT

mir im Libanon angekommen, ich kam etwas später mit einem
Sammeltaxi. Diese Fahrt werde ich nie vergessen. Als wir die Stadt
unter Tränen verließen, kamen mir die Schilder und Tafeln am
Straßenrand in den Blick. Eines davon wird mir ewig in Erinnerung
bleiben: „Seien Sie beschützt auf allen Wegen!“

Wir näherten uns al-Masna, dem Grenzgebiet zwischen Syrien
und dem Libanon, wo man unsere Ausreisepapiere abstempelte.
Mein Herz begann wie wild zu schlagen, ich war so verwirrt und
voller Angst wie nie zuvor.

Wir fuhren auf der Straße, die zum Flughafen von Damaskus
führt. Ich hörte Bomben einschlagen, von denen uns jeden Augen¬
blick eine hätte erwischen können. Wir passierten die entsetzlichen
Straßensperren, die in die Hände des Regimes gefallen waren.
Seine Beamten durchsuchten alles, sie warfen unsere Koffer auf
die Straße, wütend und voller Verachtung brüllten sie uns an:
„Breitet den Inhalt eurer Koffer aus, damit wir sehen, was ihr
aus dem Land schaffen wollt!“ Sie schmissen alles herum, wir
mussten die Sachen wieder einsammeln. An jedem Kontrollpunkt
musste der Taxifahrer „den Augen des Heers und des Vaterlands“
Bestechungsgelder zahlen oder Zigarettenstangen aushändigen.
Zwischen zwei Städten passierten wir im selben Land dreiund¬
zwanzig Kontrollpunkte. Normalerweise kann man diese Strecke
in zwei Stunden bewältigen, wir brauchten neun Stunden. An
der Grenze säumten Tausende Syrer die Straßen, ich begriff das
ganze Ausmaß ihres Elends mit einem Schlag. Ein Schauplatz
der Schmach und der Hoffnungslosigkeit: Mütter mit wenigen
Habseligkeiten, die ihre Säuglinge stillen, und die Grenzsolda¬
ten anbettelten, sie mögen sie ausreisen lassen. Die libanesischen
Soldaten beleidigten und beschimpften sie, schrien ihnen laut ins
Gesicht. Kinder in zerschlissenen Kleidern liefen erschöpft und
hungrig umher, kraftlose Greise waren dort, und ängstliche junge
Frauen und Männer.

Als ich all dies sah, überkam mich eine große Ohnmacht, ich
fühlte mich um Jahre gealtert.

Gerade in jener Zeit entwickelte sich im Libanon eine Bewegung
gegen den Zuzug von Syrern. Mit jedem Tag verschlechterten sich
die Einreisebedingungen für syrische Flüchtlinge. Das zwang sie,
nach anderen Auswegen zu suchen. Ich denke an die vielen Syrer,
die ihr Heim verlassen mussten und sich auf den Weg in den Li¬
banon machten. Ich denke an die Qualen, die sie an der Grenze
dieses Landes erleiden, an ihr langes Warten und ihre Verbitte¬
rung. Ich denke an ihre Familien, ihre Kinder, ihre Liebsten, die
zwischen zwei Ländern hängengeblieben sind. Ich denke an die
Grausamkeit, die alles, was dort geschicht, beherrscht. Ich denke
an das Schicksal, das die in Syrien verbliebenen Menschen erwartet.

Bevor ich aus dem Taxi stieg, ermahnte mich der Taxifahrer:
„Wenn sie dich fragen, warum du in den Libanon einreisen willst,
sagst du, dass du deine Familie besuchen willst.“ Zögerlich betrat
ich das Büro des verantwortlichen Beamten. Fünfundzwanzig
Menschen vor mir hatte man bereits die Einreise verweigert. Ich
hörte die groben Stimmen der Offiziere und das leise Flehen der
Menschen, die die libanesischen Offiziere um Hilfe baten, worauf
diese brüllten und laut den Augenblick verfluchten, an dem der
erste Syrer ihr Land betreten hatte.

Ängstlich näherte ich mich dem Schreibtisch des diensthabenden
Offiziers. Er blickte furchteinflößend und unerbittlich auf mich
herab und fragte mich: „Und du, warum willst du in unser Land?“
Ich antwortete mit zitternder Simme: „Besuch, Besuch.“ Er sagte
nur: „Hau ab! Geh zurück, wo du herkommst. Abgewiesen!“