Fassungslos ging ich wieder hinaus. Ich war nicht imstande, nach
dem Grund der Ablehnung zu fragen oder ihn gar anzuflehen.
Schluchzend stieg ich wieder ins Taxi ein. Der Taxifahrer sagte:
„Wisch dir die Tränen weg, wir kommen wieder.“ Die Mitreisen¬
den, junge Männer, fast noch Kinder, waren voller Angst, ihnen
drohte die Einberufung zum Militär. Sie erzählten, dass sie alles
zurückgelassen hätten. Sie hatten keine andere Wahl, als ins Aus¬
land zu fliehen. Auch sie hatte man nicht in den Libanon einreisen
lassen. Wir fluchten laut auf alles und jeden: auf die Regierung,
auf den Präsidenten, auf das Land, das Militär, die Familie. Heute
denke ich an diese jungen Männer. Was ist wohl mit ihnen passiert,
als sie wieder an ihren Heimatort zurückgekehrt waren? Haben
sie es doch noch geschafft, aus dem Land zu kommen? Ich hoffe
sehr, dass es ihnen gut geht.
Ich kam wieder in Suwayda an, mit all meinen Koffern und
meinen enttäuschten Hoffnungen. Ich musste wieder zu mir
kommen. Wir, Dschalal und ich, mussten eine andere Lösung
finden, damit ich in den Libanon einreisen konnte.
Der Flughafen von Damaskus war ja geschlossen, die einzige
Lösung für uns Syrer bestand darin, über eines der wenigen Nach¬
barländer in den Libanon zu gelangen, was ein schr teures und
gefährliches Unterfangen war.
Dschalal kaufte mir ein Ticket für einen Flug von Beirut in den
Jemen und schickte es mir per E-Mail. Nach zwei Tagen versuchte
ich mein Glück erneut. Dieses Mal waren wir noch mehr, wieder
sah ich sehr viele sorgenvolle, erschöpfte Gesichter.
Als ich wieder an die Grenze kam, lehnte man mich erneut ohne
jeden Grund ab. Wieder kehrte ich zuriick, diesmal hatte ich noch
weniger Hoffnung, jemals ausreisen zu können.
Erst beim dritten Mal, nachdem jemand für mich vermittelt
hatte, klappte es endlich mit dem Grenzübertritt.
18. November 2014: Hallo Libanon!
Zuerst kam ich in einer Stadt namens Aliya an, die in einer
Region liegt, in der wie in Suwayda nur Drusen leben. Das Gute
war, dass man mich dort nicht kannte. Dschalal und seine Freunde
warteten auf mich.
Als ich Dschalal endlich sah, wurde ich von Gefühlen über¬
schwemmt, die ich nicht kannte, am liebsten hätte ich die ganze
Welt umarmt. Lange war ich einsam und verängstigt, war tausend¬
fach belästigt, gequält und drangsaliert worden, jetzt saß ich auf
einmal neben Dschalal und seinen Freunden, die später zu meiner
Familie werden sollten. Ich packte den Wein aus. Wir tranken,
lachten und erzählten uns Geschichten.
Am nächsten Morgen war alles anders: Gerüche... Orte...
Die Freunde, die ich im Libanon traf, warteten allesamt auf den
geeigneten Zeitpunkt, um nach Europa zu kommen, genauer ge¬
sagt, nach Deutschland. Manche kratzten hier und da Geld zusam¬
men, um Schleuser zu bezahlen. Manche schrieben zum zehnten
Mal Universitäten an und wurden zum zehnten Mal abgelehnt.
Andere hatten die Hoffnung längst aufgegeben, weitere Versuche
zu unternehmen, sie hatten sich mit ihrer Lage in diesem elenden,
gleichgültigen und egoistischen Land abgefunden. Viele Libanesen
wollten ja selbst das Land verlassen und nur für besondere Anlässe
zurückzukehren, z.B. für ein Begräbnis.
Heute kann man sagen, dass erst durch die Geschehnisse in
Syrien der Libanon zu einem dicht bevölkerten Land wurde.
Die Tage vergingen, wir waren inzwischen zu dritt, wenn man
unsere Hündin Roma nicht mitzählt, die wir inzwischen verloren
hatten, da wir sie nicht nach Deutschland mitnehmen konnten.
Im Libanon wohnten wir zur Miete, die sehr hoch war. Syrer
im Libanon, ob sie Emigranten, Flüchtlinge oder Niedergelassene
sind, müssen Tag und Nacht für einen Hungerlohn arbeiten, der
kaum ausreicht, um davon leben zu können.
Der Dritte im Bunde war Kamal, der große Erzähler, der jetzt in
Berlin lebt und dort studiert. Als er sich von uns verabschiedete,
ließ er uns allein in der Wohnung zurück. Voller Sorge warteten
wir lange aufein Lebenszeichen von ihm, denn er hatte sich auf die
gefährliche Flüchtlingsroute, die die Schleuser anboten, begeben.
Würde er es schaffen, dem Tod zu entkommen, er und die anderen,
die sich mit ihm auf den Weg gemacht hatten?
Ich, Dschalal und Roma blieben allein zurück — ohne Arbeit
und mit einer abgelaufenen Aufenthaltserlaubnis, die wir nicht
mehr verlängern konnten.
Es war unmöglich für Dschalal Arbeit zu finden, denn im Liba¬
non waren die Lebensbedingungen für Jemeniten in jeder Hinsicht
schwierig. Die Tage vergingen, unser Erspartes ging zur Neige.
Wir begannen, nach Studienhilfen und Schriftstellerstipendien zu
suchen und bewarben uns, wo es nur möglich war. Es gibt keine
Schriftstellervereinigung, keinen Verband, keinen Verein, den wir
nicht anschrieben, oft auch mehrmals. Resultat: Keine Antwort.
Ein Jahr verging ohne finanzielle Unterstützung, ohne Arbeit,
in ständiger Angst um unser Leben, da wir jeden Moment damit
rechnen mussten, dass meine Verwandten oder Bekannte meiner
Verwandten von uns Wind bekämen, dazu kam jetzt auch noch,
dass wir unser Recht auf Aufenthalt verwirkt hatten.
Eines Tages blieb meine Regel aus. Der Schwangerschaftstest fiel
positiv aus: Ich war schwanger. Es blieb uns nichts weiter übrig
als zur Unesco zu gehen, unsere Lage zu erklären, uns eintragen
zu lassen, und uns in eine unendliche Warteschlange einzureihen,
um in irgendein Land ausreisen zu können.
Wir fuhren nach Beirut, ungefähr eine halbe Stunde von Aliya
entfernt, auch hier mussten wir wegen der vielen Straßensperren
und Durchsuchungen, die aufgrund des Zuzugs von syrischen
Flüchtlingen eingerichtet worden waren, lange Wartezeiten aufuns
nehmen. Als wir angekommen waren, warteten wir wieder viele
Stunden, bis wir endlich an der Reihe waren. Wir betraten einen
Metallcontainer, der mit Computern und Stühlen eingerichtet
war. Eine unfreundliche, verhärmte Frau fragte uns nach unseren
persönlichen Daten und Verhältnissen und tippte alles wie ein
Roboter in den Computer ein, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
Sie fragte mich nach meinem Namen und meiner Staatsangehö¬
rigkeit. Ich sagte ihr, ich sei Syrerin. Sie erwiderte: „Entschuldigen
Sie, Syrer werden zur Zeit nicht in das Register aufgenommen.“
Dschalal hingegen könne man registrieren. Als ich sagte, dass ich
schwanger sei, gab sie uns nur eine ausweichende Antwort. Alles,
was sie sagen könne, sei, dass man unseren Fall prüfen würde, sie
uns jedoch zu diesem Zeitpunkt nichts versprechen könne.
Die ganze Geschichte wurde immer furchtbarer.
Ich musste mich gynäkologisch untersuchen lassen, um fest¬
zustellen, wie es dem Fötus in meinem Bauch geht. Dabei kam
heraus, dass ich Zwillinge erwartete.
Damals habe ich die blanke Angst verspürt, und tatsächlich sollte
alles noch viel schlimmer kommen. Als die Ärztin erfuhr, dass ich
und Dschalal verschiedenen Religionen angehören, beschied sie
mir in einem schneidenden Ton: „Noor, deine Kinder werden
keine Geburtsurkunde bekommen. Ihr könnt nicht zusammen
verreisen, keine Schule wird sie aufnehmen... außerdem sind
die Kosten für die Geburt viel zu hoch. Ihr seid jung, ihr werdet
noch weitere Kinder kriegen, jetzt bleibt euch gar nichts anderes