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Am 23. Februar 2017 wurde ich schließlich von den deutschen
Behörden offiziell als Flüchtling anerkannt, kurz danach auch
Dschalal. Das alles hat uns viel Kraft gekostet.

Am 2. April 2017 hielt ich endlich meine Tochter Eve in den
Armen und begriff erst ganz, was ich verloren hatte, als ich meine
Zwillinge abtreiben ließ.

Jetzt, da ich dabei bin, diesen Text zu beenden, just in diesem
Moment, schaue ich Eve an und überlege, was ich ihr über ihre
toten Geschwister erzählen werde.

Margarete Windsperger

Von Grenzen — August 2017

Jetzt eignet sich das Erlebnis zum Erzählen, ist eine Anekdote
geworden, die Gefühle und Gedanken lassen sich benennen, es
bleibt aber fast nichts von dem Gefühl der Machtlosigkeit, des
Ausgeliefertseins, den mühsam zurückgehaltenen Tränen, Tränen
des Zorns, der Enttäuschung, und auch der Verzweiflung.

Und auch schon jetzt, hier, in diesem Moment, besser in die¬
sen endlosen Stunden der Gedanke daran: Wir werden es später
erzählen, die Zuhörer werden lachen, den Kopf schütteln oder
Kommentare äußern, die zeigen, dass sie nichts verstanden haben.

Als wir das Frachtschiff bestiegen, das uns von Odessa über das
Schwarze Meer nach Istanbul bringen sollte, waren wir stolz darauf,
keine Massentouristen zu sein. Gemeinsam mit einigen anderen,
die offensichtlich auch ihre Gründe hatten, diesen Weg zu wählen,
hatten wir schon stundenlang im Nirgendwo bei fast vierzig Grad
auf die Abfahrt gewartet: ein „Businesscenter“, Plattenbau verlo¬
ren zwischen Eisenbahnschienen, einer stark befahrenen Straße
und Steppengras, ein Kommen und Gehen von Fernfahrern, die
dicke Stapel von Papieren stempeln ließen. Dann die Auskunft
einer Mitarbeiterin der Reederei: Es wird fahren, heute noch,
wahrscheinlich, aber später...“, erinnert mich an Zeitangaben in
Afrika, wir stellen uns auf ein offenes Ende dieses Abenteuers ein.
Einige Männer, die diese Prozedur offensichtlich schon kennen, sie
begleiten irgendeine Fracht, sitzen schläfrig auf einem schäbigen
Kunstledersofa, zwischendurch die Blicke auf’ die Handys gerichtet.
Die beiden Franzosen, die mit uns warten, zeigen keine Zeichen
von Ungeduld, sie haben sich besser auf diese Reise eingestellt
als wir, philosophische Bücher in der Hand oder aufgeschlagen
auf den Knien, so muss man es machen, sie tragen keine Uhren.
Und der hilflose Vater mit seinem pubertierenden Sohn, für den
die Reise anscheinend Therapie sein soll, um ihn von irgendetwas
zu heilen oder fernzuhalten.

In der Ferne, hinter verrosteten Zäunen und Stromleitungen,
ist das Meer zu erahnen, die Lastkräne des Industriehafens. Als
die Dämmerung hereinbricht, wünsche ich mich in unser Hotel
in Odessa zurück, eine Dusche, ein Bett, davor noch ein gutes
Restaurant. Ich glaube, jetzt bin ich diejenige, die ihre Ungeduld
am deutlichsten zeigt, außer dem Jungen, der nun begonnen hat,
die Stufen zum Eingang des heruntergekommenen Bürogebäu¬
des in irrem Tempo auf- und abzulaufen, dabei immer wieder
unverständliche Beschimpfungen gegen seinen Vater ausstoßend.

Dann plötzlich taucht der VW-Bus auf, wir sollen einsteigen, ich
lache, es sind zwölf Passagiere mit Gepäck, es geht sich nie aus, will
protestieren, doch schon sitze ich fast auf den Knien des Dicken,

Noor Kanj, geb. 1990 in Suweida, Syrien, studierte dort Informatik
und Wirtschaft und wechselte wegen des Krieges auf die private Inter¬
national University for Science and Technology in Damaskus. 2014
verließ sie Syrien und zog in den Libanon. 2016 kam sie mit einem
Literaturstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung nach Deutschland.
Gedichte von ihr wurden im arabischsprachigen Lyrikband „Neue
Syrische Dichtung“ und in der deutschsprachigen Anthologie „Weg
sein-hier sein“ veröffentlicht. Zusammen mit der Autorin Svenja
Leiber bildet sie ein Tandem im vom Gunda-Werner-Institut und
der Initiative WIR MACHEN DAS geförderten Projekt „Weiter
Schreiben.jetzt“.

der sich mit seinen gestempelten Formularen Luft zufächelt. Die
Koffer sind auch irgendwie verstaut, und wir fahren auf die Last¬
kräne zu, die ihre Arme in den grauen Himmel strecken. Nach ein
paar Metern: aussteigen, Grenzkontrolle, Pässe, Gepäck... Eine
junge, blonde Soldatin mit Drogen- oder Sprengstoffspürhund
hat anscheinend auch die Aufgabe, ein reizvoller Anblick für die
vielen traurigen und müden Fernfahrer zu sein.

An heißen, stinkenden LKWs drücken wir uns vorbei, mein
Koffer verfängt sich mehrmals in irgendwelchen rostigen Ketten,
ja, man reist eben besser mit einem Rucksack, der über den Kopf
ragt, wenn man es richtig machen will..

Die Grenzsoldaten haben bemerkt, dass der Vater seinen Sohn
im Hafen vor dem Schiff fotografiert hat, kurze Aufregung, das
ist natürlich verboten, das Bild muss vor den Augen des Unifor¬
mierten gelöscht werden. Die Hundeführerin steht auch daneben.
Mit Spiegeln werden die Fahrgestelle der LKWs kontrolliert, wird
nach illegalen Passagieren gesucht. Niemand kann sich in dieser
stinkenden Hitze aus Rost und Öl verstecken, denke ich. Wir sind
inzwischen bei einem Aufzug angekommen, der uns auf unser
Deck bringt, die Druckknöpfe sind von Null bis Neun numme¬
riert. Wir steigen auf Deck sieben aus. Wieder Ausweiskontrolle,
Tickets, Warten... Essen gibt es erst morgen, denn wir haben
zwölf Stunden Verspätung, und es gibt nur drei Mahlzeiten. Die
Fahrt wird vierundzwanzig Stunden dauern. Doch diesmal haben
wir es besser gemacht als unsere Mitreisenden, in unserer Kabine
packen wir Brot, Käse, Wurst, scharfe Soße und eine Flasche
Wein aus. Ich bin euphorisch, die Kabine ist groß, wie ein Ho¬
telzimmer, zwei Fenster, ganz vorne, ein bequemes Doppelbett,
Badezimmer mit Dusche. Meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit
dieses Abenteuers sind verschwunden, im leicht schaukelnden
Bett schlafe ich ein...

Dann, mitten in der Nacht, geschäftiges Hin und Her, Rasseln
von Ketten, der Geruch der Abgase, der durch die offenen Luken
kommt, es ist zwei Uhr dreißig, und wir legen ab. Rundherum
zerreißen Blitze die Dunkelheit und zeigen für Augenblicke die
Konturen der Wolkentürme, die vor uns über dem Meer stehen.

Dann wiegt mich das Schaukeln in einen Schlaf, der seines¬
gleichen sucht. Schon lange habe ich nicht so tief geschlafen.
Am Moigen, als ich die Augen öffne, ist rundherum Blau. Das
Schwarze Meer strahlt in makellosem Blau, in dem sich der Him¬
mel spiegelt, die Wolken sind verschwunden.

Beim Frühstück, das von einer blechernen Stimme im Laut¬
sprecher ausgerufen wird, kommt man ins Gespräch mit den

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